9.02.2021, Hessen, Hanau: Eine offizielle Gedenktafel mit den Fotos der neun Opfer erinnert am Anschlagsort in Hanau-Kesselstadt an die Opfer der Anschläge im Jahr 2020. (dpa)
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von Till C. Waldauer

Am vergangenen Mittwoch gab der hessische Landtag grünes Licht für einen weiteren Untersuchungsausschuss im Zusammenhang mit rechtsextremistischem Terror in dem westdeutschen Bundesland. Er wird sich unter anderem mit der Frage befassen, ob es im Zusammenhang mit dem rassistisch motivierten Terrorakt in Hanau im Februar 2020 zu einem Behördenversagen gekommen ist. Bereits im Juni 2020 hatte sich ein Ausschuss zur politischen Aufarbeitung des Mordes am früheren Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke konstituiert.

SPD-Politiker Rudolph erhofft sich „Aufklärung“

Der Hanau-Ausschuss, der bereits am nächsten Mittwoch seine erste Sitzung abhalten wird, kam vor allem auf Druck der SPD zustande. Deren Parlamentarischer Geschäftsführer Günter Rudolph erklärte im Gespräch mit TRT Deutsch, er erhoffe sich „Aufklärung“ von dem Ausschuss. Dieser sei „ein Aufklärungs-Instrument, dem auf offene Fragen, die es gibt, eben die entsprechenden Antworten erteilt werden können“. Der Untersuchungsausschuss tage in ähnlicher Weise wie ein Gericht: Er könne Zeugen vernehmen und Akteneinsicht nehmen.

Einige Fragen rund um die Tat sind weitgehend geklärt. Andere erscheinen jedoch noch offen. Am 19. Februar 2020 hatte der 43-jährige Tobias R. in Hanau gegen 22 Uhr begonnen, an verschiedenen Orten der Hanauer Innenstadt auf ihm unbekannte Personen zu schießen – wobei es sich ausschließlich um solche handelte, die phänotypisch als Einwanderer erkennbar waren.

Unauffällig, aber kein unbeschriebenes Blatt

Bei dem Terrorakt wurden neun Menschen aus Einwanderercommunities im Alter zwischen 21 und 44 Jahren getötet. Später erschoss R., der mutmaßlich an paranoider Schizophrenie litt und im Vorfeld seiner Tat im Internet Verschwörungstheorien verbreitet hatte, noch seine 73-jährige Mutter und schließlich sich selbst. Waffen durfte R. legal besitzen, weil er seit 2012 Mitglied in einem Schützenverein war. Dort habe er sich „unauffällig“ verhalten und sei ein „ruhiger Typ“ gewesen, erklärten Vereinskameraden. Einen ähnlichen Eindruck bestätigten Nachbarn.

2019 soll der spätere Attentäter mindestens zweimal an einem Gefechtstraining und Schießübungen eines privaten Sicherheitsunternehmens teilgenommen haben. Dort hätten ehemalige Militärs und Angehörige von Spezialkräften als Ausbilder fungiert. Tobias R. habe zudem im Internet Bücher über Geheimgesellschaften und Außerirdische sowie Reden von Adolf Hitler bestellt und konsumiert. Wenige Tage vor der Tat hatte er in einem YouTube-Video von angeblichen unterirdischen Folterlagern für Kinder in den USA gesprochen.

Hessische Polizeipsychologen gingen davon aus, dass Wahnvorstellungen über eine vermeintliche Geheimorganisation, die ihn überwache, der unmittelbare Antrieb für die Tat gewesen seien. Gleichzeitig sei es ihm darum gegangen, als überzeugter Rassist Migranten zu töten.

Wahnhafte Anzeigen führten nie zu Konsequenzen

Obwohl Tobias R. nie als aktives Mitglied oder Sympathisant einer rechtsextremen Vereinigung auftrat, gab es einige Auffälligkeiten, die auch Behörden bekannt waren, aber nie zu einer schärferen Beobachtung oder Verweigerung einer Waffenbesitzkarte führten.

In den Jahren 2002 bis 2004 brachte er mehrfach wahnhafte Anzeigen bei Polizeibehörden ein, 2007 geriet er tätlich mit einem Wachmann der Universität Bayreuth aneinander, 2010 ermittelte der Zoll – ergebnislos – wegen des Verdachts auf Drogenschmuggels. Frühere Arbeitskollegen des zuletzt arbeitslosen R. berichteten nach der Tat von ausländerfeindlichen und rassistischen Aussagen am Arbeitsplatz, und davon, dass ihm die AfD als nicht radikal genug erschienen wäre. Im November 2019 erstattete er Anzeige beim Generalbundesanwalt gegen eine „unbekannte geheimdienstliche Organisation“, die ihn bereits seit langem beobachte. Auch in diesem Schreiben fanden sich bereits Hinweise darauf, dass seine Wahnvorstellungen mit rassistischen Gedanken vermengt waren.

Notrufe nicht rechtzeitig durchgekommen

Der SPD-Landtagsabgeordnete Rudolph will unter anderem im Untersuchungsausschuss klären lassen, ob auch Hessens Polizei über die offenkundige psychische Störung und das rassistische Weltbild des späteren Attentäters im Bilde gewesen war – und wenn ja, ob man entsprechenden Hinweisen nachgegangen sei.

Zudem vermisst der Politiker, wie er TRT Deutsch mitteilte, einen bereits seit längerem angekündigten Ermittlungsbericht der Generalbundesanwaltschaft. Auch wolle man in tiefgreifenderer Weise die Frage erörtern, warum R. legal an eine Waffenbesitzkarte gelangen konnte.

Im Laufe der Ermittlungen ergaben sich noch weitere Unwägbarkeiten, denen der Ausschuss nachgehen will. So werden Fragen wie jene erörtert, ob es ein Zufall war, dass Notrufe aus den betroffenen Lokalitäten in der Tatnacht nicht rechtzeitig zur Polizei durchdrangen.

Notausgang auf behördliche Anordnung geschlossen

„Warum kam der Notruf nicht bei der Polizei an? Das kann man als Zufall ansehen“, äußerte Günter Rudolph im TRT-Deutsch-Interview. Die Staatsanwaltschaft habe mitgeteilt, dass sie gegen betroffene Polizeibeamte in den Polizeistationen in Hanau kein Ermittlungsverfahren einleiten werde wegen des nicht angekommenen Notrufs. „Das löst aber kein Problem, weil das kann ja trotzdem ein Organisationsversagen der Polizei sein, dass Notrufe eben nicht so aufgeschaltet werden, dass sie durchkommen.“

Auch müssten Fragen beantwortet werden wie jene, warum Angehörige der Opfer über Stunden hinweg nicht informiert worden seien oder dass es eine Obduktion geben würde. Für Irritationen sorgte auch, dass zum Zeitpunkt der Tat der Notausgang der Shisha-Bar offenbar auf polizeiliche Anordnung hin verschlossen war. Begründet worden sei diese Maßnahme damit, dass man verhindern wollte, dass Gäste im Fall von Polizeikontrollen aus dem Lokal flüchten könnten. Tatsächlich konnten sie am Tag des Anschlages nicht vor dem Todesschützen fliehen.

U-Ausschuss zu Hanau soll „verlorenes Vertrauen wiederherstellen“

Zudem sollen sich 13 Personen im SEK befunden haben, als dieses in der Tatnacht zum Einsatz kam, die später als Beteiligte an Polizeichats mit rechtsextremen Inhalten enttarnt wurden.

Zwar könne der Ausschuss niemandem die getöteten Familienmitglieder wiederbringen, merkt Rudolph an, allerdings könne der Staat zumindest verlorenes Ansehen wiedergutmachen. „Der Staat hat Vertrauen verloren bei diesen Angehörigen, bei den Opferfamilien“, betonte der SPD-Politiker gegenüber TRT Deutsch. „Und jetzt geht es darum, mit der Arbeit des Untersuchungsausschusses verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.“

Innenminister Peter Beuth habe es, so Rudolph, bei der Aufarbeitung des Terrors bislang an Empathie und Transparenz vermissen lassen.

TRT Deutsch