19.02.2021, Hessen, Hanau: Eine Teilnehmerin hält ein Plakat «niemals vergessen#Hanau» auf der Kundgebung zum Gedenken an den rassistischen Anschlag vor einem Jahr in Hanau. (dpa)
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In der Nacht auf den 19. Februar 2020 erlebte Deutschland einen der grauenvollsten Tage in seiner jüngeren Geschichte. Bei dem rechtsterroristischen Anschlag auf zwei Shisha-Bars in der hessischen Stadt Hanau kamen insgesamt elf Menschen ums Leben.

Der Attentäter Tobias Rathjens hatte lange in einer Schützengesellschaft trainiert und war mehrmals polizeilich in Erscheinung getreten. Als Opfer suchte sich Rathjens gezielt deutsche Jugendliche aus, die eine Einwanderungsbiographie hatten. Neun junge Menschen aus Hessen verloren so ihr Leben. Der Amokschütze erschoss nach dem Attentat auch seine Mutter und schließlich sich selbst.

Die Opfer waren Deutsche, und der Anschlag galt Deutschland

Dieser Anschlag war in mehrfacher Hinsicht ein Angriff auf Deutschland. Denn bei den Ermordeten handelte es sich um deutsche Jugendliche. Auch wenn manche von ihnen Vorfahren hatten, die vor Jahren und Jahrzehnten aus anderen Ländern nach Deutschland eingewandert waren, es waren Deutsche. Sie hießen: Fatih, Sedat, Gökhan, Vili, Kaloyan, Mercedes, Ferhat, Hamza, Said und Gabriele. Man mag denken, diese Namen hören sich gar nicht so deutsch an. Das ist leider ein gewaltiger Trugschluss. Es mag an uns vorbeigegangen sein: Deutschland ist in den letzten 60 bis 65 Jahren so vielfältig und bunt geworden, dass genau diese Namen mittlerweile auch in Deutschland geläufige Namen sind. Zumindest müsste die Gesellschaft so weit sein, diese Namen als einheimisch zu akzeptieren. Die Realität mag teilweise noch eine andere sein. Manche Menschen wollen oder können diese Veränderungen nicht wahrhaben. Sie können natürlich weiterhin Scheuklappen tragen und so weiter denken. Das ist ihr gutes Recht. Aber Deutschland entwickelt sich voran. Wir leben nicht im 18. Jahrhundert, als der Austausch von Waren, Dienstleistungen und Menschen begrenzt war. Mit anderen Worten: Es reicht nicht aus, nur die Namen der Opfer des Attentats von Hanau auszusprechen. Diese Namen stehen stellvertretend für alle fremd klingenden Namen in Deutschland und sollten auch in breiten Kreisen akzeptiert werden. Auch das gehört zu einem modernen Einwanderungsland.

Gesellschaftliche Einheit muss zuerst in den Köpfen entstehen

Genauso wie Alexander, Marvin und Tobias oder Marie, Julia und Sandra gehören auch Fatih, Mehmet, Andrzej, Lorenzo, Amira, Fatma, Allegra, Ljudmila, Amelia und Ylva zu Deutschland. Das sind inzwischen auch deutsche Namen. Daran müssen wir uns nicht nur gewöhnen, wir müssen dies auch als Normalität auffassen. Viele Menschen in unserem Land, zum Teil auch Politiker*innen und Medienvertreter*innen, halten die Opfer von Hanau immer noch für „Migranten“. Es reicht, sich Zeitungsartikel oder Einträge im Internet zum Thema anzusehen, um dies zu erkennen. Solange sich diese Einstellung nicht ändert, wird es uns nur schwer gelingen, eine gesellschaftliche Einheit gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu bilden. Dann haben es die Menschenfeinde leicht, uns gegeneinander aufzuwiegeln und zu spalten. Lassen Sie uns diese Fragen stellen: Was sehen wir als fremd an, und wieso betrachten wir etwas als fremd? Was sehen wir als einheimisch an, und nach welchen Kategorien tun wir dies? Eine gesellschaftliche Einheit muss zuerst in den Köpfen und Herzen entstehen.

Angriff auf die gemeinsamen Werte

In den vergangenen Jahren waren unser Zusammenleben, unsere Demokratie und unser Rechtsstaat in Deutschland vielerlei Gewaltangriffen und Herausforderungen ausgesetzt. Die NSU-Mordserie, die Ermordung von Walter Lübcke, Anschläge auf Moscheen und Friedhöfe, der Anschlag auf die Synagoge in Halle und das Attentat in Hanau, alle diese brutalen rechtsextremen Terrorakte richteten sich gegen unser Zusammenleben und unser Gesellschaftssystem in unserem Land. Diese heimtückischen Attacken haben Deutschland mitten ins Mark getroffen. Die Zahl der politisch motivierten Kriminalität erreichte im vergangenen Jahr erneut einen neuen Höchststand seit Einführung der Statistik 2001. Mehr als die Hälfte der erfassten Straftaten war rechts motiviert. Auch nach Einschätzung der neuen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) geht die größte Bedrohung in Deutschland derzeit von Neonazis aus. Die Ministerin möchte bis Ostern einen „Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ erarbeiten.

Kein „Wir“ und „Ihr“

Der Mordanschlag von Hanau war ein Angriff auf Deutschland. Er richtete sich gegen unsere gemeinsamen Werte, das Miteinander und den Frieden in unserem Land. Hanau war ein Wendepunkt in der jüngeren Geschichte Deutschlands. Auch wenn es sich möglicherweise paradox anhören mag: Hanau kann auch als eine Chance begriffen werden. Es kann eine Chance sein für eine stärkere Verbundenheit und ein besseres Miteinander der Menschen in diesem Land. Es kann eine Chance sein, Vielfalt und Verschiedenheit als Normalität zu begreifen und zu akzeptieren. Und es kann eine Chance sein, nicht nur nach „Wir“ und „Ihr“, nach „den Deutschen“ und „den Migranten“ zu unterscheiden. Wenn wir es schaffen, in unserem Denken und Handeln so weit voranzukommen, also nicht mehr zwischen ethnischen, religiösen oder sonstigen gruppenspezifischen Merkmalen zu unterscheiden, werden es die Polarisierer und Menschenfeinde umso schwerer haben. Lassen Sie uns diese Chance, die durch das Attentat von Hanau entstanden ist, gemeinsam nutzen. Erst wenn wir diese Gelegenheit geschlossen wahrnehmen, werden Rassisten und Rechtsextremisten verzweifeln. Dann werden sie es nicht mehr schaffen, unsere freie Gesellschaft mit Angst und Gewalt zu spalten und unser demokratisches System auszuhöhlen.

Die Mitte nicht den Spaltern überlassen

Nichtsdestotrotz müssen wir zwei Jahre nach Hanau wachsam bleiben: Denn Neonazis, Rassisten und Menschenfeinde entwickeln sich nicht urplötzlich zu Verbrechern. Sie haben ein soziales, berufliches und familiäres Umfeld. Sie sind Mitglieder in Vereinen und Organisationen. Sie können unsere Nachbarn und Arbeitskollegen sein. Sie kommen nicht nur aus den Rändern, sondern aus der gesellschaftlichen Mitte. Und um diese Mitte müssen wir uns als demokratische Gesellschaft sorgen. Diese Mitte dürfen wir nicht den Spaltern überlassen.

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