ARCHIV - 09.06.2004, Nordrhein-Westfalen, Köln: Ein Polizist sichert die Spuren der Explosion in der Keupstraße. (dpa)
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Der 9. Juni markiert in Deutschland einen dunklen Tag. Heute vor genau 16 Jahren explodierte in der belebten Keupstraße in Köln eine von der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) platzierte Nagelbombe. Mehr als 22 Menschen wurden damals zum Teil schwer verletzt.

Genau ein Jahr danach wurde Ismail Yaşar das nächste Opfer der Ceska-Mordserie des NSU. In der Zwischenzeit hatten die Behörden „in die falsche Richtung“ ermittelt und die Opfer der Keupstraße verdächtigt.

Fall Keupstraße: Opfer unter Verdacht

Am 9. Juni 2004 gegen 16 Uhr explodierte in der Keupstraße in Köln-Mülheim eine mit etwa 800 Nägeln – 10 Zentimeter langen Zimmermannsnägeln – gespickte Bombe vor einem gut besuchten Friseursalon. Die Nagelbombe war mit 5,5 Kilogramm Schwarzpulver in einen Helmkoffer präpariert und auf dem Gepäckträger eines Fahrrads vor dem Geschäft abgestellt. Insgesamt 32 Leute befanden sich in lebensgefährlicher Nähe, Dutzende Menschen wurden verletzt, einige schwer. Einer von ihnen war Atilla Özer, der später an den Folgen starb.

Die Suche nach den Tätern erwies sich als sehr schwierig, vor allem weil die Behörden und Politiker bei den Ermittlungen - wenn überhaupt - in die falsche Richtung schauten. Trotz der Hinweise der Betroffenen und Anwohner auf Neonazis als Täter, wurde die Möglichkeit von Polizei und Medien ignoriert. Stattdessen richtete sich der Verdacht der Ermittler ausschließlich gegen die Anwohner und Beschäftigten der Straße – sie wurden von den Ermittlern stundenlang verhört. Die Opfer wurden als Täter verdächtigt und die Kölner Geschäftsstraße wurde als „Parallelwelt krimineller Ausländer-Milieus“ dargestellt. Die von den Behörden gegen sie eingeleiteten Ermittlungen empfanden Anwohner wiederum als rassistisch.

Etwa eine Stunde nach dem Anschlag sprach das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen von einem Akt „terroristischer Gewaltkriminalität“. Diese erste Aussage zur Tat wurde kurz danach vom LKA geändert: Es gebe doch „keine Hinweise auf terroristische Gewaltkriminalität“. Die Aussagenänderung fand statt, obwohl sich der Erkenntnisstand seit der Lageerstmeldung in keiner Weise verändert hatte.

Tags darauf sagte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily in der Tagesschau: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu, aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, so dass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann“.

Die Aussagen von Schily lenkten die Ermittlungen in die falsche Richtung. Mehrere Informanten wurden daraufhin in die Keupstraße eingeschleust, um den angeblichen „kriminellen Hintergrund“ des Attentats in der migrantisch geprägten Einkaufsstraße herauszufinden. Die Ermittlungsrichtungen umfassten alle möglichen rassistischen Stigmatisierungen, unter anderem Schutzgelderpressung, Drogen, Versicherungsbetrug und Mafia.

Der Betreiber des Friseursalons wurde gar telefonisch abgehört, die Hinweise der Betroffenen jedoch nicht weiter verfolgt. Es existierte in der Straße lange Zeit Misstrauen und Argwohn untereinander. Ein rechtsextremer Hintergrund wurde von den Zuständigen nicht vermutet, obwohl Bewohner der Keupstraße diesen Verdacht von Anfang an äußerten und selbst Kölner Zeitungen in diese Richtung spekulierten. Eine fatale Fehleinschätzung mit tödlichen Folgen, wie sich später herausstellen sollte.

Ein Jahr später: Mord an Ismail Yaşar

Exakt ein Jahr nach dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße wurde İsmail Yaşar in seinem Imbiss in Nürnberg vom NSU brutal ermordet. Er ist das sechste Opfer der Ceska-Mordserie des NSU-Komplexes, das aus rechtsextremen Motiven insgesamt 10 Menschen – neun Migranten und eine Polizistin - zwischen 2000 und 2009 in Deutschland tötete.

Nach Angaben der „Initiative zur Erinnerung an die Opfer rechten Terrors in Nürnberg“ wurde İsmail Yaşar in Alanyurt in der Türkei geboren. Demnach kam er mit 23 Jahren nach Deutschland und arbeitete zunächst als Schweißer und Dönerverkäufer, bis er schließlich seinen eigenen Imbiss eröffnete.

Nach fast 30 Jahren in Deutschland habe İsmail Yaşar beschlossen, wieder in die Türkei zurückzukehren. Für den 15. Juni 2005 habe er eine Reise dorthin geplant. „Ich hab jetzt genug Geld verdient“, soll er seiner Mutter bei ihrem letzten Telefonat gesagt haben. „Ich komme nach Hause.“ Sechs Tage bevor er seine Mutter wiedergesehn hätte, wurde er ermordet. Er wurde 50 Jahre alt.

Der Journalist Robert Andreasch nahm an dem NSU-Prozess im Oberlandesgericht als Prozessbeobachter teil. Jahrelang dokumentierte er für das bundesweite Netzwerk „NSU-Watch“ die Gerichtsverhandlungen - seitens des Gerichts wurde kein Inhaltsprotokoll angefertigt.

In einem Artikel aus dem Jahr 2018 beschreibt Andreasch unter anderem die Begegnung mit den Angehörigen der NSU-Mordopfer. Die beeindruckende Kritik der Geschwister und der Mutter von İsmail Yaşar werde ihm lange im Gedächtnis bleiben, sagte der Journalist. „Unsere Hoffnung zu erfahren, warum İsmail ausgesucht wurde und sterben musste, hat dieser Prozess nicht erfüllt. Aufklärung wird es nicht geben“, kritisierten die Angehörigen mit Enttäuschung.

Fünf Morde hätten verhindert werden können

Die deutsche Neonazi-Terrororganisation NSU ist außerdem für drei Bombenanschläge und 15 Bankraubfälle verantwortlich. Zwischen den Jahren 1998 und 2011 – 13 Jahre lang – konnte die rechte Terrorgruppe ihre Mordserie ungehindert planen und durchführen, bis sie am 4. November 2011 aufflog.

Nach der Selbstenttarnung des NSU versprach die Bundeskanzlerin eine „lückenlose Aufklärung“ der beispiellosen rechtsextremen Mordserie. Beim NSU-Prozess in München wurde auch der Nagelbombenanschlag in der Keupstraße als 32-facher versuchter Mord aus rassistischen Motiven angeklagt.

Trotz mehrerer Parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und jahrelanger Hauptverhandlung am Oberlandesgericht München ist der NSU-Komplex bis heute nicht ganz aufgeklärt.

Betroffene und Experten sagen, der Anschlag auf die Keupstraße hätte als Schüsselmoment gedeutet werden können, um den NSU-Komplex aufzudecken. In dem Falle wären die Morde an İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter verhindert werden können.

TRT Deutsch