Archivbild: Aufgehängte Banner mit der Aufschrift „Islamophobie“. / Photo: AA (AA)
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Der Islamophobie-Experte Enes Bayraklı forscht zum Anstieg von antimuslimischem Rassismus in Europa. Seit 2015 bringt Bayraklı gemeinsam mit dem österreichischen Akademiker Farid Hafez den jährlichen „Europäischen Islamophobiebericht“ heraus. In dem Bericht werden antimuslimische Vorfälle in einzelnen europäischen Ländern untersucht. Zahlreiche Autoren aus verschiedenen Ländern veröffentlichen darin ihre Ergebnisse.

War der 11. September ein Wendepunkt? In welchen Bereichen des Lebens sind Muslime Diskriminierung ausgesetzt? TRT Deutsch hat mit Enes Bayraklı über die zunehmende Islamfeindlichkeit in Europa gesprochen.


Wie kam der Begriff „Islamophobie“ zustande? Was ist der Ursprung dieses Begriffs?

Der Begriff „Islamophobie“ wird seit 25 Jahren in der Wissenschaft intensiv verwendet. Die erste Verwendung des Begriffs geht jedoch auf die frühen 1900er Jahre zurück. In den 20er Jahren verwendeten zwei französische Schriftsteller diesen Begriff zum ersten Mal, um die Politik Frankreichs in Algerien zu beschreiben. Wir sehen jedoch nicht, dass dieses Konzept danach in der akademischen Welt angewandt wird. 1997 veröffentlichte ein Think Tank im Vereinigten Königreich einen Bericht mit dem Titel „Islamophobia a challange for us all“. Seitdem hat sich dieses Konzept intensiv in der akademischen Welt etabliert. Vor allem nach dem 11. September sehen wir, dass zunehmend wissenschaftliche Studien zu diesem Thema durchgeführt werden. Daher können wir heute sagen, dass es nun eine sehr ernstzunehmende wissenschaftliche Literatur über Islamophobie gibt.


In Ihrem jährlichen Bericht haben Sie unterschiedliche politische Persönlichkeiten in Europa ausgesucht. Letztes Jahr war es der französische Präsident Emmanuel Macron. Dieses Jahr haben Sie den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz ausgewählt. Wie kam es zu dieser Auswahl?

Als wir die Berichte zum ersten Mal veröffentlicht haben, gab es keine Fotos auf den Titelseiten. Doch nach einer Weile wurde uns klar, dass der Bericht mit seiner Veröffentlichung tiefgreifende Diskussionen auslöst. Bei der Auswahl des Titelbildes für den Bericht achten wir nun daher jedes Jahr darauf, welche Namen aus Politik, Kunst und Kultur im Hinblick auf Islamophobie hervorgestochen sind und im jeweiligen Jahr in den Vordergrund gerückt sind.

Wie war bislang die Medienberichterstattung über den Islamophobiebericht?

Zunächst einmal können wir sagen, dass wir mit einer großen Zensur konfrontiert sind, insbesondere in den Mainstream-Medien in Europa. Der Bericht wird entweder ignoriert oder verunglimpft – obwohl ein ernsthaftes Interesse an diesem Bericht besteht. Wir stellen fest, dass er von internationalen Organisationen als Quelle verwendet wird. Unser Bericht trägt dazu bei, die regionalen Entwicklungen zu verfolgen. Darüber hinaus sehen wir, dass er wissenschaftlich zitiert und von Akademikern als Quelle angegeben wird. Es handelt sich dabei vielleicht um den einzige Bericht über Islamophobie, der weltweit und regelmäßig veröffentlicht wird.

Wie hängt die globale Entwicklung mit der steigenden Muslimfeindlichkeit zusammen? Welches Ereignis kann als Zäsur für Islamophobie gesehen werden?

Es ist nicht möglich, die Hass-Welle nur mit einem Faktor zu erklären. Es gab bereits vor dem 11. September eine ernsthafte Anfeindung gegen Muslime. Durch die Ereignisse nach dem 11. September hat dieser Umstand jedoch eine noch ernstere Dimension angenommen. An diesem Punkt könnte der 11. September als beschleunigender Faktor eine wirksame Rolle gespielt haben. Ich denke jedoch, dass es nicht möglich ist, Islamophobie nur mit dem 11. September oder Terroranschlägen zu erklären. Darüber hinaus gibt es auch politische Akteure, die von Islamophobie profitieren. In dieser Hinsicht glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass dies nur durch einzelne Faktoren erklärt werden kann.

In welchen sozialen Bereichen ist antimuslimische Rassismus besonders präsent?

Alle Bereiche des Lebens sind betroffen. Aber es gibt einen grundlegenden Unterschied. Das Problem beruht auf einer politischen Einstellung. Es gibt Gesetze, die die religiösen Freiheiten der Muslime einschränken, wie das Verbot des Halal-Schlachtens oder das Verbot der Beschneidung. Darüber hinaus manifestiert sich antimuslimischer Rassismus als eine Diskriminierungsform im Berufsleben oder äußert sich in Form von Rassismus im Bildungswesen. Der Rassismus nimmt somit institutionelle Formen an. Die Sprache der Politik gefährdet die Sicherheit der Muslime. Es kommt zu Gewaltakten und Terroranschlägen gegen Muslime, wie beispielsweise beim islamfeindlichen Anschlag in Neuseeland. Dies ist eine besorgniserregende Situation.

Welche Verantwortung haben Muslime, um gegen Islamophobie zu kämpfen? Was müssen sie tun, damit dieses Problem beseitigt werden kann?

Es gibt im Westen ein Rassismusproblem, das über Muslime hinausgeht. Muslime sind die Opfer von heute. In der Vergangenheit waren es andere Teile der Gesellschaft. Von einfachen Lösungen und Rezepten kann keine Rede sein. Islamfeindlichkeit lässt sich nicht bekämpfen, indem man sagt, der Islam sei eine Religion des Friedens. Wir müssen die Frage stellen: Warum wird nur der Islam mit Terrorismus und Gewalt in Verbindung gebracht? An diesem Punkt sollten wir uns ernsthaft fragen, wozu und wem diese Hasskampagnen dienen, von welchen Kreisen sie organisiert werden und für welche politischen Zwecke diese Agenda vorbereitet wird. „Der Islam ist eine Religion des Friedens“ - wenn Sie das sagen, führt das zu nichts. Denn die Wurzel des Problems, mit dem wir konfrontiert sind, liegt in einem Projekt und einer Haltung gegenüber Muslimen. Es wird versucht, verschiedene politische Praktiken gegen Muslime zu legitimieren, indem man diese Menschengruppe kriminalisiert. Ich denke, dass dieser Punkt hinterfragt werden sollte.

TRT Deutsch