Russischer T55-Panzer (Getty Images)
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von Can Kasapoğlu

Moskaus Plan in der Ukraine basierte auf der falschen Annahme, dass die Umstände, die während der hybriden Kampagne auf der Krim 2014 geherrscht hatten, immer noch gegeben seien. In den Augen von Präsident Wladimir Putin würde der Krieg nur kurz dauern. Außerdem wären die Länder des euro-atlantischen Raums bereits gespalten; der französische Präsident hatte die NATO sogar für „hirntot“ erklärt.

Der russische Vorstoß in die Ukraine hätte dem Kalkül zufolge diese problematischen Spaltungen noch vertieft. Angesichts der bereits gestiegenen Energiepreise und der problematischen Abhängigkeit Europas von russischen Gaslieferungen hätte ein weiterer Sieg der „Gerassimow-Doktrin“ kein Problem darstellen dürfen. Was das russische Militär in der Ukraine präsentierte, war jedoch alles andere als eine Glanzleistung.

Schlecht vorbereitete Operation rächte sich schon kurz nach Beginn

Moskau begann den Angriff mit einer schlecht kalkulierten nachrichtendienstlichen Vorbereitung des Schlachtfelds (IPB). Dies zeigte sich zuerst beim verpfuschten Angriff der Luftlandetruppen (VDV) auf den Flughafen Hostomel zu Beginn des Krieges, bei dem man mit wenig oder gar keinem ukrainischen Widerstand rechnete.

Der Plan war, die Kontrolle über den Flughafen zu übernehmen und ihn zu nutzen, um die Eliteeinheiten des russischen Militärs nach Kiew zu transportieren und die Regierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu stürzen. Anschließend wäre ein prorussisches Regime eingesetzt worden, um die „historische Einheit von Ukrainern und Russen“ im postsowjetischen Raum zu manifestieren, wie es Putin einst vorschwebte. Das ukrainische Militär und das ukrainische Volk zeigten jedoch unerwartete Entschlossenheit und Widerstand.

Nach dem Scheitern des hybriden Versuchs griff das russische Militär auf konventionelle Operationen zurück und unterstrich damit seine mangelnde Bereitschaft für einen groß angelegten zwischenstaatlichen Krieg. Den russischen Luft- und Raumfahrtkräften gelang es nicht, die Luftüberlegenheit über die Ukraine zu erlangen, und die russische Armee litt unter einer schlecht geplanten und schlecht durchgeführten Logistik. Als die Einnahme der ukrainischen Hauptstadt zu einem unerreichbaren Ziel wurde, ordnete der russische Generalstab den Rückzug aus den nördlichen Teilen der Ukraine an, um seine Bemühungen auf den Osten zu konzentrieren.

Im weiteren Verlauf des Konflikts mussten die Russen auf noch härtere Weise aus ihren nachrichtendienstlichen Fehlern lernen. Der Raketenkreuzer Moskwa, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, wurde von ukrainischen Neptun-Schiffsabwehrraketen versenkt.

Der bisherige Verlauf des Krieges

An der Ostgrenze der Ukraine zeichnen sich nun bestimmte militärisch-geostrategische Parameter ab, die den Konflikt prägen: Die topografischen Gegebenheiten im Osten, insbesondere das ländliche Tiefland, legen den Schwerpunkt auf massive Angriffe vom Land aus mit Artillerie und Mehrfachraketen sowie auf gepanzerte Kriegsführung.

Auch die westliche Militärhilfe hat den Wandel des Konflikts miterlebt und sich auf die neuen Gegebenheiten eingestellt. Polen und die Tschechische Republik haben den ukrainischen Streitkräften T-72-Panzer aus dem Kalten Krieg zur Verfügung gestellt, da die ukrainischen Streitkräfte mit dieser Plattform vertraut sind. Andere westliche Staaten, insbesondere die USA, haben den Transfer von Artilleriewaffen und unterstützenden Einrichtungen verstärkt.

Auch wenn eine groß angelegte, erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine nicht unmöglich ist, so ist dies doch leichter gesagt als getan, denn es gibt zwei wesentliche Vorbehalte.

Der erste liegt in den Grundlagen der operativen Planung. Bislang ist es der ukrainischen Verteidigung sehr gut gelungen, die russische Kriegspartei in der Tiefe des Landes auszubluten, vor allem durch die mobile Verteidigung durch taktische Einheiten in städtischen und vorstädtischen Gebieten. Die ukrainischen Truppen haben sogar Putins Generäle und hochrangige Offiziere in einer aufsehenerregenden Weise ausgeschaltet.

Im Gegenzug litt das russische Militär unter hohen Abnutzungsraten bei Material und Personal und verlor rund 20 Prozent seines Kampfpanzerarsenals an der Front.

Man sollte jedoch die erfolgreiche mobile Verteidigung der Ukraine, die eine asymmetrische Wirkung auf dem Schlachtfeld erzeugt, nicht mit einer wirksamen Gegenoffensive zur Rückeroberung und vor allem zum Halten von Gebieten verwechseln.

Der zweite Punkt betrifft die Art der Verteidigungshilfeprogramme und die Effizienzzyklen. Nicht alle militärischen Hilfsprogramme werden von den Empfängern gleich gut verarbeitet. Die Ausrüstung der ukrainischen Territorialverteidigungskräfte mit tragbaren Luftabwehrsystemen (MANPADS) und Panzerabwehrlenkraketen (ATGM) hat gefährliche Fähigkeiten gegen russische Panzer und Flugzeuge geschaffen, die in geringer Höhe fliegen.

Allerdings wird es nicht so einfach und schnell gehen, aus den eintreffenden T-72-Kampfpanzern Kapital zu schlagen und große Kampfformationen aufzustellen, die mit den russischen Kapazitäten mithalten können.

Wie geht es weiter?

Im südlichen Sektor scheinen die Grenzen dessen, was das russische Militär sichern kann, erreicht zu sein. Insbesondere das Vorhandensein von Küstenabwehrraketen (dies betrifft sowohl die ukrainischen Neptunes als auch die britischen Pläne zur Lieferung von Brimstones) macht eine amphibische Landung an der Küste von Odessa äußerst gefährlich.

Die ukrainischen Streitkräfte haben sich auch in Mykolajiw gut geschlagen, wodurch der russische Vorstoß aus Cherson gestoppt wurde. Russland kann Odessa mit Raketen zerstören, aber russische Truppen auf dem Boden sind zumindest im Moment unwahrscheinlich.

Im Ostsektor hingegen ist mit einem langwierigen und blutigen Konflikt zu rechnen. Den russischen Manövereinheiten ist es nicht gelungen, die ukrainischen Truppenansammlungen entlang der Achse Izium-Slawjansk einzukreisen. Da die Ukrainer immer noch über Logistik und Verstärkung verfügen und ihre Kommunikationswege relativ sicher sind, können sie länger standhalten.

Gegenwärtig zeichnen sich dennoch zwei Szenarien ab, von denen keines aus ukrainischer Sicht optimistisch ist.

Das mildere Szenario sieht vor, dass der Kreml seine Militärpolitik nüchtern neu kalibriert und die begrenzten Errungenschaften, die er bereits errungen hat, beibehält. Einige strategische Prognosen kommen sogar zu dem Schluss, dass Moskau sich dafür entscheiden könnte, die von ihm kontrollierten ukrainischen Gebiete wie Cherson zu annektieren, anstatt Satelliten-„Volksrepubliken“ zu gründen.

Dieses Szenario birgt jedoch einige Probleme für Russland: Die lokale Bevölkerung in den besetzten ukrainischen Gebieten könnte sich nicht damit anfreunden, ihr Leben als Bürger unter harten Sanktionen, eingeschränkter digitaler Konnektivität und einem von der sowjetisch-russischen Geheimdienstelite dominierten politischen System zu führen.

Ein langwieriger Aufstand, der vom Westen und dem ukrainischen Sicherheitsapparat unterstützt würde, könnte diese russischen Pläne durchkreuzen. In der Hoffnung, sein Gesicht zu wahren, kann sich Putin jedoch auf die berüchtigte Nationalgarde von General Viktor Solotow verlassen, wenn es darum geht, Aufstände mit eiserner Faust niederzuschlagen.

Doch das Szenario der vollendeten Tatsachen könnte noch bitterere Folgen haben. Der Westen hat die Benchmarks Georgien 2008 und Krim 2014 längst überschritten. Die Aussichten, dem russischen Silowiki-Establishment einen Olivenzweig zu reichen oder den „Reset-Knopf“ zu drücken, wie es die damalige Außenministerin Hillary Clinton vorzog, sind dieses Mal höchst gering.

Das neue strategische Konzept der NATO wird nicht annähernd an das Dokument von 2009 heranreichen, das eine funktionierende „Partnerschaft“ mit Moskau anstrebte und das russische Vorgehen in Georgien ignorierte. Letzten Endes wird Russland wahrscheinlich stärker von China abhängig werden und sich auf der internationalen Bühne zunehmend isolieren.

Nukleare Eskalation immer noch denkbar

Dann gibt es noch den zweiten, pessimistischeren Weg. Sollte es den russischen Streitkräften nicht gelingen, Putin bald eine „verkaufbare“ Leistung zu präsentieren, könnte der Kreml zu dem Schluss kommen, dass er die konventionellen Mittel seiner Macht aufgebraucht hat.

An dieser Stelle kommt das Szenario mit geringer Wahrscheinlichkeit und großer Wirkung ins Spiel. Russland könnte auf einen begrenzten Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine zurückgreifen. Moskau würde erwarten, mit einer solchen beispiellosen Eskalation zwei Dinge zu erreichen: die Einstellung der westlichen Militärhilfe und das Brechen des ukrainischen Willens, weiterzukämpfen. Der taktisch-nukleare Weg wäre für Putin jedoch ein riskantes, zweischneidiges Schwert. Sollte sich die NATO entscheiden, die eskalatorische Herausforderung anzunehmen, könnten die Dinge noch schlimmer werden.

Darüber hinaus kann niemand mit Sicherheit davon ausgehen, dass sich das ukrainische Militär und die ukrainische Bevölkerung bedingungslos ergeben werden, wenn die nukleare Schwelle überschritten wird; die Verhaltensmuster menschlicher Gruppen sind unglaublich schwer vorherzusagen. Noch wichtiger ist, dass Präsident Putin auf den Widerstand seiner inneren Kreise stoßen könnte, sollte er einen solch gefährlichen Weg einschlagen.

Insgesamt hat die schlechte nachrichtendienstliche Planung in Verbindung mit der schlechten Kampfleistung des russischen Militärs dazu geführt, dass sich der Kreml in einer Sackgasse befindet. Der Krieg kann sich über Monate hinziehen und die Nachbeben jahrelang andauern, und die Sicherheitslage wird derweil immer gefährlicher.

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