Todestag des NSU-Opfers Mehmet Turgut (dpa)
Folgen

von Ali Özkök

In Rostock haben rund 150 Menschen dem vor genau 16 Jahren ermordeten Mehmet Turgut gedacht. Der 25-jährige Türkeistämmige war 2004 in einem Imbiss im Stadtteil Toitenwinkel vom sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erschossen worden. Bürgerschaftspräsidentin Regine Lück verwies in ihrer Ansprache auf eine Vielzahl von Gewalttaten im vergangenen Monat, die deutschlandweit aus rassistischen und menschenverachtenden Motiven heraus verübt worden seien. Dazu zählte sie den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, den Anschlag auf die Synagoge von Halle und die jüngste Bluttat von Hanau. Dafür sei ein Mann mit einer „zutiefst rassistischen Gesinnung“ verantwortlich, sagte Lück. Deshalb müsse das Gedenken an die Ermordeten auch mit einer Mahnung verbunden sein. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Vorurteile, Gewalt und Rassismus in unserer Gesellschaft noch weiter Fuß fassen.“ Der Jurist und Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess, Mehmet Daimagüler, kommentierte im Gespräch mit TRT Deutsch, dass noch zahlreiche Fragen über die Hintergründe und das Wirken des NSU ungeklärt seien. Er sagte: „Nach dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 wurde „vollständige“ Aufklärung versprochen. Zudem wurde gesagt, dass wir eine politische Debatte über die Ursachen von Rassismus brauchen.“ Weder das eine noch das andere sei erfolgt.

„Wir haben keine volle Aufklärung gehabt. Wir haben nicht geklärt, welche Rolle Verfassungsschutzbehörden und ihre V-Leute im NSU-Komplex gespielt haben. Stattdessen mussten wir erleben, dass Verfassungsschützer des Bundes und der Länder Akten geschreddert und Beweise vernichtet haben. Wir haben nicht geklärt, wie groß der institutionelle Rassismus bei der Polizei ist, wie es sein konnte, dass die Opfer keine Opfer sein durften, warum sie und ihre trauernden Witwen und ihre verwaisten Kinder kriminalisiert wurden, während zahlreiche Zeugenaussagen über die tatsächlichen Nazi-Mörder ignoriert wurden. Die Morde hätten verhindert werden können, wenn die Polizei objektiv ermittelt hätten, so wie man es in einem Rechtsstaat erwarten darf“, betonte Daimagüler.

Keine Debatte über Rassismus in Deutschland „Vor allem haben wir keine Debatte darüber gehabt, woher der Rassismus kommt. Und die Wahrheit ist, der Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Er kommt aus demokratischen Parteien“, mahnte der Anwalt und fügte hinzu: „Wenn ständig ein Rassismus kultiviert wird, der als Islamkritik daherkommt, sich als Islamkritik tarnt, entsteht ein Hass gegen Muslime.“ Wenn man so tue, als seien „Einwanderer, Flüchtlinge, Türken, Muslime nicht nur ein Problem, sondern sogar das größte Problem Deutschlands, dann werden Extremisten ermuntert, zu einer Waffe zu greifen. Wenn die etablierte Politik sich nicht zu seinen Einwanderern bekennt, nicht einmal Danke sagt für die harte Arbeit dieser Menschen über Jahre und Jahrzehnte in Bergwerken, Stahlfabriken, am Fließband, der zum Wohlstand dieses Landes beigetragen hat. Wenn stattdessen gesagt wird, dass der Islam nicht nach Deutschland gehört. All das wurde nicht thematisiert.“

Stattdessen habe man so getan, als sei Rassismus nur unter Nazis zu finden. „Aber Rassismus und Nazis sind nicht synonym. Jeder Nazi ist ein Rassist, aber nicht jeder Rassist ist ein Nazi. Ein Sarrazin ist kein Nazi, aber er ist Rassist, und Millionen Deutsche kaufen seine Bücher. Was sagt das über Deutschland aus? Der Diskussion wird ausgewichen, weil die Antwort für viele unangenehm sein würde: dass der Rassismus tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Aber Schweigen löst keine Probleme. Deswegen waren die Morde des NSU nicht die letzten Morde, der Anschlag von Halle nicht der letzte Anschlag und die Toten von Hanau werden nicht die letzten Toten“, warnte der Jurist.

Linken-Politiker Peter Ritter verwies in einer Erklärung darauf, dass die rechte Terrorszene „offenbar ungebremst mobil“ mache. Dafür seien auch jene mitverantwortlich, die rassistische und menschenverachtende Parolen salonfähig gemacht hätten. „Kassel, Halle, Hanau – die Saat der rechten Hetzer und geistigen Brandstifter geht auf.“ Das Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatte fast 14 Jahre lang im Untergrund gelebt. In dieser Zeit ermordeten die Männer neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft – darunter Mehmet Turgut – und eine Polizistin. Sie begingen außerdem zwei Sprengstoffanschläge und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle. 2011 flog das Trio auf. Die beiden Männer wurden tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden. Das Oberlandesgericht München verurteilte Zschäpe im Juli 2018 wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft. Petition zur Freigabe von NSU-Akten Unterdessen fordert eine Petition mit über 67.000 Unterschriften die Freigabe der hessischen NSU-Akten. Die Initiatoren erhoffen sich neue Erkenntnisse über die NSU-Morde und mögliche Verbindungen zum Mord an Kassels Regierungspräsidenten Lübcke. „Wir finden, dass wir die Offenlegung den Opfern, Opfer-Angehörigen und auch Herrn Lübcke schuldig sind“, sagte Thomas Bockelmann, Sprecher der „Gruppe zur Freigabe der NSU-Akten“ am Montag in Kassel. Er ist außerdem Intendant des Kasseler Staatstheaters. Dort übergab er die Petition an die Vorsitzende des hessischen Petitionsausschusses, Manuela Strube. Laut den Initiatoren bezieht sich die Forderung auf NSU-Akten, die der hessische Verfassungsschutz zunächst für 120 Jahre unter Verschluss gestellt hatte. Laut Innenministerium wurde diese Frist mittlerweile auf 30 Jahre reduziert. Geschützt werden soll dadurch die Arbeit der Verfassungsschützer und seiner V-Leute. Die unverhältnismäßig langen Sperrfristen seien aber ein fragwürdiges und undemokratisches Instrument, durch das eine Kontrolle der Geheimdienste in der Öffentlichkeit nahezu unmöglich gemacht werde, erklärten die Initiatoren der Petition.

TRT Deutsch und Agenturen