Das UN-Flüchtlingshilfswerk hat sich bestürzt über die Rassismusberichte von nichteuropäischen Ukraine-Flüchtlingen gezeigt. (AA)
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Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat eine neue Flüchtlingskrise verursacht. Schätzungen zufolge sind bereits eine Million Menschen aus dem Land geflohen. Solidarität mit dem ukrainischen Volk und Empathie den Fliehenden gegenüber sind dieser Tage fester Bestandteil des westlichen Diskurses in Medien und Politik. Doch stehen die politische Reaktion sowie die Darstellung der aktuellen Krise in vielen Medien in starkem Kontrast zur Repräsentation nichteuropäischer Konflikte und Flüchtlinge.

Rassistische Strukturen

Einigen Reportern und Korrespondenten war es nicht möglich, die tragische Situation in der Ukraine zu beschreiben, ohne sich dabei kolonialer und orientalistischer Konzepte der sogenannten „Zivilisation“ zu bedienen. Sie zeigten sich sichtbar überrascht darüber, dass „zivilisierte“ Europäer nun Flüchtlinge sind.

So bezeichnete ein Nachrichtensprecher des Senders Al Jazeera English die fliehenden Ukrainer als „wohlhabende Menschen der Mittelklasse“, die nicht Flüchtlinge seien, „die versuchen, aus Gebieten im Nahen Osten zu fliehen“, sondern „aussehen wie jede europäische Familie“. Überrascht darüber, dass ein Krieg in Europa ausbrach, behauptete ein Korrespondent des amerikanischen Senders CBS, die Ukraine sei nicht „wie der Irak oder Afghanistan, wo seit Jahrzehnten Konflikte toben“. Er bezeichnete Kiew als eine “relativ zivilisierte, relativ europäische Stadt”, in der man „nicht erwarten oder hoffen würde“, dass ein Krieg ausbräche. Ebenfalls überrascht proklamierte eine Korrespondentin des Senders ITV News: „Dies ist nicht ein Entwicklungsland der Dritten Welt. Das ist Europa.“

Dies sind nur einige wenige Beispiele für die weitverbreitete rassistische Annahme, Europa sei „zivilisiert“ und dadurch dem Rest der Welt überlegen. Diese orientalistische Rhetorik ist tief im europäischen Kolonialdenken verankert, das den Westen als kulturell fortschrittliche Ausnahme in der Welt positioniert.

Der aktuelle Diskurs zeigt erneut, dass Krieg und Zerstörung in Ländern der Dritten Welt und vor allem im Nahen Osten als natürliches Phänomen akzeptiert werden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen sich bekriegen würden, weil es ihnen angeblich an Zivilisation mangele. Doch zeigen vor allem die als negative Vergleiche genannten Beispiele Syrien, Irak und Afghanistan eher das Resultat westlicher Machtspiele in der Dritten Welt. Diese orientalistische Rhetorik dient auch dazu, das Leiden von Nichteuropäern zu normalisieren.

Auch scheint die Überraschung mehr auf einer europäischen Illusion von Sicherheit und Frieden zu basieren als auf historischen Fakten. Europa ist nicht nur der Ursprung kolonialer und imperialistischer Kriege, die vielerorts zu Völkermorden und Zerstörung führten. Beide Weltkriege begannen mitten in Europa. Konflikte wurden weiterhin ausgetragen – unter anderem in Zypern, Irland und im ehemaligen Jugoslawien, wo in den 1990er Jahren ein Genozid stattfand.

„Europäer mit blonden Haaren und blauen Augen“

Rassismus wird nicht nur durch individuelle Äußerungen manifestiert, sondern stellt auf subtiler Ebene ein strukturelles Problem dar. Es führt dazu, dass Menschen in der Dritten Welt – also die Mehrheit der Weltbevölkerung – als „anders“ gesehen werden und ihr Leiden dadurch als weniger wichtig erscheint.

Ukrainer „sind wie wir“, hieß es in einem Artikel der britischen Zeitung Telegraph. Ukrainer hätten Instagram und Netflix. Man könne sich mit ihnen identifizieren, im Gegensatz zu „verarmten und entlegenen“ Bevölkerungen. Der ehemalige stellvertretende Generalstaatsanwalt der Ukraine, David Sakvarelidze, sagte in einem Interview mit BBC: „Es ist sehr emotional für mich, weil ich sehe, wie Europäer mit blonden Haaren und blauen Augen jeden Tag durch Putins Raketen getötet werden.“

Dies impliziert, dass die Empathie, die unschuldigen, fliehenden Menschen entgegengebracht wird, vom Aussehen und der kulturellen Identität dieser Menschen abhinge. Ähnliche Kommentare wurden auch von verschiedenen europäischen Politikern präsentiert. Diese offen rassistische Rhetorik und das damit zusammenhängende politische Handeln teilen Menschen in Kategorien auf zwischen denen, mit denen wir uns identifizieren sollen, und denen, deren Leiden als natürliche Ursache beschwichtigt werden kann.

Gleichzeitig öffneten ostmitteleuropäische Staaten ihre Grenzen für Flüchtlinge aus der Ukraine. Tatsächlich war der politische und mediale Diskurs um nichteuropäische Flüchtlinge, die erst vor Kurzem versuchten, aus Weißrussland in die EU zu gelangen, weniger empathisch. Auch die hauptsächlich muslimischen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan wurden oft als potentielles Hindernis für die westliche Zivilisation oder sogar als terroristische Gefahr dargestellt. Die rassistischen Strukturen an Europas Außengrenzen dauern weiter an. Auch diese Woche wurden viele nichtweiße Fliehende aus der Ukraine an den westlichen Grenzen aufgehalten.

Keine Empathie für die Dritte Welt

Die orientalistische Differenzierung ist auch in der Berichterstattung über den Widerstand der ukrainischen Bürger offensichtlich. Mehrere westliche Medien haben die bewaffneten Widerstandsaktionen gegen russische Truppen offen unterstützt und als Selbstverteidigung gegen eine militärische Invasion gepriesen. Die mutigen Aktionen vieler Ukrainer wurden als Heldentaten gefeiert.

Sky News zeigte live, wie Ukrainer Molotowcocktails bastelten. Die New York Post bezeichnete einen Ukrainer, der sich in die Luft sprengte, als „heroisch“.

Der Kontrast zum Diskurs über Widerstand in der Dritten Welt ist erschreckend. Obwohl mehrere UN-Resolutionen allen Menschen, die unter militärischer Besatzung leben, das legitime Recht gewähren, sich im bewaffneten Widerstand zu organisieren, wird Selbstverteidigung nur selektiv als solche dargestellt.

Vielen Bevölkerungsgruppen außerhalb Europas wird das Privileg von Widerstand und Befreiung nicht gewährt. Ein offensichtlicher Kontrast ist in der Berichterstattung über Palästina erkennbar. So wird der palästinensische Widerstand gegen die brutale israelische Besatzung auch nach Jahrzehnten oftmals als Akt des Terrorismus dargestellt. Israelische Angriffe und Verstöße gegen das Völkerrecht werden dabei regelmäßig als „Selbstverteidigung“ gerechtfertigt.

Auch Boykotte und Sanktionen werden abhängig von der Identität des Aggressors und des Opfers anders dargestellt.

Die von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland, die Zensur russischer Medien und der Boykott russischer Produkte haben prompt auch die Unterstützung weiter Teile der westlichen Medienlandschaft erhalten.

Auch dies steht im Kontrast zur Perspektive auf Palästina. Seit Jahren rufen Palästinenser und nichtpalästinensische Menschenrechtsvereinigungen, Aktivisten, Akademiker und Künstler weltweit zum Boykott der israelischen Besatzung auf, in der Hoffnung, wirtschaftlicher und politischer Druck gegen das Apartheidregime könnte letztendlich zur Implementierung von Menschenrechten führen. Nicht nur werden Boykottversuche zur Unterstützung Palästinas von einigen europäischen Regierungen kriminalisiert. Auch viele Medien, vor allem in Deutschland, haben diesen Boykott grundsätzlich abgelehnt und teilweise als antisemitisch und terroristisch bezeichnet.

Durch den aktuellen Diskurs haben Teile der westlichen Medienlandschaft erneut verdeutlicht, wie präsent das koloniale Konzept der „Zivilisation“ weiterhin ist. Opfer der sogenannten „Mission Civilisatrice“ des europäischen Kolonialismus werden auch heute offen als dem Westen unterlegen dargestellt – selbst dann, wenn ein Krieg mitten in Europa stattfindet.

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