Symbolbild. Die Silhouetten russischer Soldaten im Licht der Abendsonne / Photo: DPA (dpa)
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Mit dem gegenwärtigen Mitteleinsatz ist der russischen Armee in der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt die Offensivkraft weitgehend abhanden gekommen. Die Ukraine kann Gewinne verbuchen, die weit über eine symbolische Bedeutung hinausgehen, etwa die Rückeroberung von Territorien, die Einnahme von Dörfern bei der Stadt Donezk, die sie seit 2014 nicht mehr kontrolliert hatte; der Aufbau von Brückenköpfen am Ostufer des Dnipro sowie Vormärsche im Umfeld der Stadt Bachmut, wobei die Zerstörungen in Bachmut in trauriger Weise bereits mit Verdun verglichen werden. In den südlichen Provinzen Saporischschja und Cherson fehlt den Russen ferner die strategische Tiefe, sie können sich nicht beliebig weit zurückziehen, denn irgendwann stehen sie dann an der finalen Linie des Meeresstrandes.

Zweifrontenkampf

Für die Ukraine öffnet sich ein weites Optionenspektrum. Dazu gehört die Übernahme der Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet der Ukraine durch den ukrainischen Staat, und dies in den international anerkannten Grenzen von vor 2014, also einschließlich der Gebiete Donezk und der Halbinsel Krim. Wie etwa vom Militärökonomen Marcus Keupp im ZDF ausgeführt, stellt die Logistik eine der größten Schwachstellen für die russische Militärmaschinerie dar: Die Ukraine müsste nicht notwendigerweise versuchen, die Krim militärisch mechanisiert zurückzuerobern, sondern könnte sie strategisch von allen Nachschublinien isolieren und damit die russischen Verbände dort zum Aufgeben geradezu zwingen. Und ein weiterer Gedankengang soll hier angemerkt werden: Es steht der Ukraine frei, zu verlangen, dass ein etwaiges späteres Rahmenabkommen mit Russland inkludieren muss, dass Russland anerkennt, dass die Ukraine offiziell und formell den Prozess für ihre Aufnahme in die NATO startet beziehungsweise fortsetzt.

Seit dem Aufstand der Wagner-Söldner unter der Leitung von Jewgeni Prigoschin gegen die russische Militärführung befindet sich Putin in einem „Zweifrontenkampf“; einerseits sein Kampf gegen die Ukraine, andererseits sein Bestreben, seine innerrussische Machtbasis abzusichern. Wie der Russlandexperte Gerhard Mangott in einem Interview für PULS24 betonte, entglitt Putin das Spiel des Ausspielens von Wagner-Söldnern gegen das russische Verteidigungsministerium und verkannte Putin ferner, dass „Teile des russischen Militärs sich mit Prigoschin solidarisieren“. Zu Beginn des Aufstandes hatte Putin noch von „Verrat“, einem „Dolchstoß in den Rücken“ gesprochen und harte Strafen angekündigt. Später, nach Vermittlungen des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, musste Putin den Wagner-Söldnern letztlich Straffreiheit zugestehen. Prigoschin konnte sich sogar ins Exil nach Weißrussland absetzen, durchaus mit der Möglichkeit, dort neue Söldnereinheiten aufzubauen. Für die obersten Leitungsebenen der russischen Armee ordnete Putin Säuberungen an, von denen auch der bekannte russische General Sergej Surowikin betroffen sein könnte.

Über welche Optionen verfügt Putin noch?

In einem Interview für den Nachrichtensender WELT sagte Marcus Keupp, Putin habe sich in das „Dilemma“ manövriert, zu entscheiden, was für ihn gerade wichtiger sei: die Kriegsfront gegen die Ukraine zu stabilisieren oder seine eigene Machtbasis zu bewahren und zu retten. Für die Ukraine tut sich damit das „Window of Opportunity“ auf, ihre Gegenoffensive mit vollem Momentum fortzusetzen. Der in Washington DC ansässige amerikanische Think Tank „Institute for the Study of War“ unterstreicht, wie die Ukraine bei ihrer laufenden Gegenoffensive schrittweise die „strategische Initiative“ übernimmt.

Betreffend den Ressourceneinsatz für Kriegsführung kann Putin nicht auf Dauer gegenüber dem vereinten Faktoreinsatz von Amerika und Europa bestehen. Auch eine Generalmobilmachung in Russland hätte da eventuell nur aufschiebende Wirkung. Vielleicht kann Putin hoffen, dass es im Pazifik noch zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen China und den USA über den Status der Insel Taiwan kommt.

Interveniert China aber nicht direkt im Ukrainekonflikt aufseiten Russlands, so lässt sich ein Ergebnis bereits prognostizieren: Der Ukrainekonflikt ist mit konventionellen Mitteln nicht mehr zu gewinnen. Präsident Putin könnte natürlich versucht sein, Nuklearwaffen taktischer Art einzusetzen, sollte es für die russischen Truppen sehr eng werden und die Krim für die Russen nicht mehr zu halten sein. Ob dafür der Westen einen „Plan B“ hat, muss sich erst zeigen. Aber es fällt auf, dass Russlands Regierung in letzter Zeit weniger häufig über Szenarien der Verwendung von Nuklearwaffen spricht, als dies noch vor ein paar Monaten der Fall war. Möglicherweise übt hier China hinter den Kulissen Druck auf Präsident Putin aus, nicht die „nukleare Karte“ zu erwägen. China ist damit sicherlich ein Schlüsselakteur geworden, auch für den Westen.

Zugespitzt mag eine der letzten Optionen für Putin darin bestehen, sich auf den Ausgang der kommenden amerikanischen Präsidentschaftswahl zu fokussieren, die am 5. November 2024 stattfinden wird. Präsident Putin kann hoffen, dass Joe Biden seine Wiederwahl nicht schafft.

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