Das Logo der Partei Bündnis 90/Die Grünen / Photo: DPA (dpa)
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Die Grünen setzen ihrer Politik eigentlich klare Linien und sind meist sehr deutlich in Bezug auf diese Prinzipien. Doch die deutlichen Grenzen ihrer Politik werden in den eigenen Reihen allzu oft überschritten. Immer wieder finden sich die Grünen daher im Zentrum heikler Debatten. „Seit unserer Gründung kämpfen wir für die Natur und eine Welt, in der alle Menschen ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben führen können”, heißt es im Parteiprogramm. „Um zu achten und zu schützen”, lautet der Titel des Grundsatzprogramms der Partei. Es wird mit Begriffen wie Klima, Feminismus und Pazifismus umhergeschmissen. Und doch lassen einige Widersprüche daran zweifeln, ob die Partei den von ihr propagierten Werten auch tatsächlich gerecht werden kann.

Die Grünen sollen beispielsweise anti-rassistisch sein. Die offizielle Webseite widmet dem Thema eine ganze Reihe an Maßnahmen, wie man als Partei gegen Rassismus vorgeht. Und doch sind Rassismus-Eklats der Partei nicht fern. Das jüngste Beispiel: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. An „achten und schützen” aus dem Grundsatzprogramm oder an Würde hat Palmer sicherlich nicht gedacht, als er vor seiner Teilnahme an einer Migrationskonferenz an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main das sogenannte N-Wort in den Mund nahm. Dabei handelt es sich um eine rassistisch abwertende Aussage gegenüber schwarzhäutigen Menschen, die in Deutschland inzwischen nicht mehr verwendet wird.

N-Wort und Holocaust-Relativierung: Debatte bei den Grünen wegen Boris Palmer

Ein kleiner Ausrutscher? Keinesfalls, denn das Wort fiel in der anschließenden Konferenz gleich mehrmals. Palmer verteidigte vehement sein Recht, das Wort zu nutzen. Dabei ist es nicht das erste Mal, dass er vom N-Wort Gebrauch macht. Schon 2021 fiel das Wort in einem Facebook-Kommentar von Palmer. Die Verwendung der rassistischen Aussage durch Palmer hat also schon eine Art Tradition. Ihr Fall mag zwar harmloser klingen, doch auch Außenministerin Annalena Baerbock nutzte das Wort bei einer vorab aufgezeichneten Talkshow, als sie noch Kanzlerkandidatin war. Es handelte sich lediglich um eine Nacherzählung eines Vorfalls aus ihrem Bekanntenkreis, und die Grünen-Kandidatin für das Kanzleramt entschuldigte sich auch. Allerdings ist es schließlich ihre Partei, die sich Anti-Rassismus immer wieder explizit auf die Fahnen schreibt. Ein wenig mehr Sensibilität bei der Wortwahl von den Grünen zu erwarten, dürfte daher nicht zu viel verlangt sein. Immerhin sehen sich die Grünen als eine Art Front gegen Rassismus. Dann sollte man sich vielleicht zunächst an die eigene Nase fassen.

Eine Relativierung des Holocaust ist ebenfalls eines der letzten Dinge, die man von einem Grünen-Politiker erwarten würde. Und doch brach Palmer auch diese offenbar falsche Vorstellung. Das N-Wort verwendete er gegen Demonstranten, die ihn vor der Universität bereits erwarteten. Als sie ihre Empörung zum Ausdruck brachten, zog er plötzlich einen Vergleich zum „Judenstern” aus dem Zweiten Weltkrieg. Er warf ihnen vor, „ihre Methode der Ächtungen und Ausgrenzung” unterscheide sich nicht vom Judenstern. Erneut ein Widerspruch bei den Grünen: Denn eigentlich waren es die Grünen, die in der Vergangenheit eine Ahndung von Holocaust-Verharmlosung forderten. Besonders ein Beispiel verdeutlicht den Widerspruch durchaus treffend. Die Partei hatte den palästinensischen Präsident Mahmoud Abbas wegen Aussagen während seines Staatsbesuchs in Berlin attackiert. „Es ist unerträglich, wenn in Berlin in breitester Öffentlichkeit der Holocaust relativiert wird“, hatte der Grünen-Innenexperte im Berliner Abgeordnetenhaus, Benedikt Lux, damals gesagt. Jetzt relativierte Palmer, ein prominenter Politiker der Grünen, in breiter Öffentlichkeit den Holocaust. Eben nur nicht in Berlin, sondern in Frankfurt. Ein riesiger Aufschrei wie bei Abbas blieb aus. Auch hier: Vielleicht sollte man erst einmal vor der eigenen Haustür kehren.

Grüne widersetzen sich der Veröffentlichung von NSU-Akten

Der Kampf gegen Rechts zählt zu den selbsternannten Qualitäten, mit denen die linksliberalen Grünen ständig prahlen. Zumindest die hessischen Grünen, die gemeinsam mit der CDU die Landesregierung bilden, lassen aber gehörig daran zweifeln. Die Mordserie des rechtsextremen Netzwerks NSU raubte neun Menschen, davon acht türkischstämmig, das Leben. Doch ausgerechnet die Grünen, die sich eigenen Angaben zufolge dem Kampf gegen den Rechtsextremismus widmen, sich als Gegengewicht zur AfD betrachten und Transparenz fordern, widersetzten sich der Veröffentlichung der sogenannten „NSU-Akten”. CDU-Innenminister Peter Beuth begründete die Entscheidung der Landesregierung mit „rechtlichen Gründen”.

Verfassungsfeinde könnten diese Informationen zur Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden für ihre eigenen Zwecke nutzen, hieß es weiter. Die Grünen stimmten ihm zu und missachteten damit eine Petition, die von mehr als 130.000 Menschen, einschließlich den Angehörigen der Opfer, unterschrieben wurde. Dass aus der Bundesebene nur eine leise, jedoch keine verurteilende Reaktion auf die Haltung der hessischen Grünen kam, verstärkt den Selbstwiderspruch der Partei zusätzlich. Das sorgt für Fragen: Existiert der grüne Kampf gegen Rechts etwa nur auf Papier? Die Glaubwürdigkeit der Grünen leidet darunter, und zwar gewaltig und nicht nur in Hessen, sondern bundesweit.

Doppelmoral und Widersprüche: Grüne Befürwortung von Waffenlieferungen an die Ukraine

Dann wäre da noch der Pazifismus der Grünen. Oder treffender: ein bedingter Pazifismus mit Widersprüchen. Sie würden für Frieden stehen sowie „Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete” ablehnen. Das hängt aber anscheinend davon ab, in welches Gebiet und an wen die Waffen gehen. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine waren es etwa die Grünen und dabei in erster Linie Außenministerin Baerbock, die sich vehement für Waffenlieferungen an die Ukraine aussprachen. Für Deutschland, aber besonders für die Grünen war das ein Bruch einer langjährigen Tradition. Schließlich greife Russland „nicht nur die Ukraine, sondern die ganze internationale Gemeinschaft” an. Doch der vermeintliche Grundsatz der Grünen, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, richtet sich eindeutig nach einer politischen Agenda und weist eine klare Doppelmoral gegenüber etwa Türkiye auf. Denn als Ankara Militäroperationen in Syrien und Irak startete, um sich gegen Angriffe der PKK/YPG-Terrororganisationen zu wehren, forderten Grünen-Politiker wie Baerbock und Cem Özdemir ein unverzügliches Ende der Waffenlieferungen an Türkiye. Als es um Türkiye ging, griff plötzlich wieder der Pazifismus, der im Fall der Ukraine völlig über Bord geworfen wird. Wieder die Grünen, wieder ein Widerspruch, diesmal besonders politisch motiviert. Dabei sollte man erwarten können, dass die Grünen ihren Anspruch auf „Frieden” konsequent ohne jegliche Doppelmoral umsetzen. Erneut, weil sich die Partei dies schließlich selbst auf die Fahnen schreibt.

Auch beim Klima, gewissermaßen dem ideologischen Rückgrat der Grünen, erlaubte sich die Partei so manche widersprüchliche Positionen – auch weil die Realität sie mit voller Wucht und frontal traf. Immerhin sind die Grünen Teil der Bundesregierung und leiten mit Außen- und Wirtschaftsministerium zwei Schlüsselressorts der Ampel-Koalition. Insofern ist es schwierig – ganz gleich, wie idealistisch man ist – an den eigenen Überzeugungen gänzlich festzuhalten. Wegen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine sowie der immensen Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland und dem Bestreben, Energiequellen zu diversifizieren, mussten die Grünen Zugeständnisse bei ihren Kernpositionen machen. Eigentlich werben die Grünen für einen harten Atomausstieg, mussten sich aber Anfang des Jahres für einen etwa dreimonatigen Reservebetrieb von zwei Kernkraftwerkenaussprechen. Gleichzeitig bemühte sich der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck um ein Flüssiggas-Deal mit Katar, statt beim Klimaschutz anzupacken. Dazu reaktivierte er Kohlekraftwerke. All das mag zwar wegen Notwendigkeit erfolgt sein. Allerdings sind es dennoch Widersprüche. Widersprüche, die „verdammt weh tun”, wie ein Mitglied der Grünen über den Atomausstieg feststellte.

Schmerzen dürften auch die restlichen Debatten um die Widersprüche bei fest verankerten Grundhaltungen der Grünen – sei es Anti-Rassismus, Feminismus oder Pazifismus. Diese Wahrnehmung der Wähler wird den Grünen sicherlich auch an Wahltagen als schmerzhafte Realität begegnen und sich auf den Stimmenanteil der Partei auswirken, sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene. Diese Art der widersprüchlichen Politik könnte auch zu mehr Zerwürfnissen innerhalb der Partei zwischen verschiedenen Lagern führen. Dies wiederum dürfte der Ampel-Koalition zu schaffen machen, wenn die Partei, die das Wirtschafts- und Außenministerium hält, durch innere Debatten aufgewühlt wird. Sollten sich die Grünen nicht gewissermaßen neu kalibrieren und wieder zu ihren Grundprinzipien finden, werden sie sowohl Stimmen als auch Glaubwürdigkeit einbüßen.

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