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Warum „schluckt“ ausgerechnet jene Partei, für die seit jeher Minderheitenrechte und Rassismusbekämpfung identitätsstiftende Bedeutung einnahmen, den harten rechtspopulistischen Kurs der ÖVP?

Mit der Verkündung der UN-Menschenrechtserklärung ist kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs der Grundstein für ein geeintes, pluralistisches und friedliches Europa gesetzt worden. Eine Vision, die in den letzten 70 Jahren Stück für Stück Wirklichkeit wurde. Heute aber bedrohen Rassismus, Selbstsucht, Gier und Umweltzerstörung den Frieden Europas. Der zunehmende Rechtspopulismus befeuert diese Tendenzen auch in Österreich. Die im Dezember 2017 angelobte Regierung der Volkspartei ÖVP („die Türkisen“) mit der extrem rechten Freiheitlichen Partei FPÖ („die Blauen“) hat in den weniger als zwei Jahren ihrer Existenz viel dazu beigetragen, das gesellschaftliche Klima in Österreich zu vergiften. Der rigide Kurs von Türkis-Blau in der Asyl- und Migrationspolitik mit entsprechend harter Rhetorik - sowie Maßnahmen wie Kopftuchverbote in Kindergärten und Schulen - verschlimmerten den offen ausgetragenen Rassismus und befeuerten die grassierende Islamfeindlichkeit.

Die aufgrund des Ibiza-Skandal-Videos gesprengte Koalition führte im Mai 2019 zur Ausrufung von Neuwahlen. Große Hoffnungen wurden geweckt, dass mit einer Türkis-Grünen Koalition der reaktionäre und fremdenfeindliche Kurs der Regierung ein Ende nehmen würde. Wie Phönix aus der Asche entstieg die Partei die Grünen aus ihrer extremen Niederlage der Nationalratswahlen 2017, die sie mit nur 3,9% Wählerstimmen hochkant aus dem Parlament katapultierte, als sie bei den Neuwahlen am 29. September 2019 einen fulminanten Wahlsieg erreichten und mit 13,9% der Stimmen wieder ins Parlament einzogen. Als wäre das nicht Sensation genug, bekamen die Grünen überdies ausreichend Abgeordnetenmandate für eine mögliche Regierungskoalition mit der ÖVP. Die Grünen sahen sich schnell verpflichtet, in einer Regierung für ambitionierten Klimaschutz zu sorgen, haben sie ihren Erfolg doch zum Großteil der #FridaysForFuture - Klimabewegung zu verdanken. Für Parteichef Sebastian Kurz bot sich durch die koalitionäre Grünfärbung die einmalige Chance zur Reinwaschung von dem Makel, mit extrem rechten Partnern koaliert zu haben.

Als am 1. Januar 2020 nach 100 Tage langen Verhandlungen die Parteiobmänner der ÖVP und der Grünen vor die Kameras traten und einen erfolgreichen Abschluss der Koalitionsverhandlungen verkündeten, war die Hoffnung auf eine Menschlichkeitswende in der Regierung noch ungetrübt. Einen Tag später, nach Veröffentlichung des Regierungsprogrammes, dann die große Ernüchterung: Deutlich lesbar trägt das 164 Seiten starke Programm die Handschrift der Rechtspopulisten. Politischer Islam findet sechs Mal Erwähnung. Menschlichkeit genau einmal. Immer wieder liest man von verstärkten Kontrollen und Überprüfungen „insbesondere islamischer“ Einrichtungen. Eine weitere Verschärfung des Kopftuchverbots an Schulen ist geplant und zwar schon Anfang 2020, wie die neue Integrationsministerin Susanne Raab vor wenigen Tagen verlautbarte. Die Ministerin spricht sich für eine „Null-Toleranz-Haltung gegenüber dem politischen Islam“ aus, ohne dabei zu definieren, wofür dieser Begriff steht. Solange dieser Begriff schwammig bleibt, ist seine Verwendung hochgefährlich. Denn er öffnet der Pauschalverurteilung einer gesamten Volksgruppe und deren Denunziation und Diffamierung Tür und Tor. Wie zynisch und populistisch der Diskurs geführt wird, zeigt das Regierungsvorhaben der Dokumentationsstelle für politischen Islam, gleichgestellt mit der Bundesstelle für Sektenfragen. Ebenfalls unter der ÖVP-FPÖ-Regierung geplant und jetzt auch im Regierungsprogramm der ÖVP-Grüne-Koalition enthalten ist die sogenannte Sicherungshaft - auch Willkürhaft bezeichnet. Sie ist verfassungsrechtlich umstritten, da sie einen massiven Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte bedeuten würde.

Eigentlich überrascht der Unmenschlichkeits-Kurs der ÖVP kaum: PR-Strategen werden Bundeskanzler und Parteiobmann Sebastian Kurz wohl dahingehend beraten, dass ein unverändert harter Kurs in der „Ausländerpolitik“ (Integrations, Migrations- und Asylpolitik) notwendig ist, um eine Rückwanderung der 246 000 ehemaligen, zur ÖVP gewechselten FPÖ-Wählerschaft Richtung FPÖ zu verhindern. Die Kurz-ÖVP versucht so einen Spagat: Im Klimaschutz nach links gerückt, bleibt sie unverändert rechts(populistisch) in der sogenannten Ausländerpolitik. Manch einer sieht in der Türkis-Grünen Koalition gar eine modellhafte Imagewandlung rechter Parteien zu „Öko-Faschisten“.

Doch was ist mit den Grünen? Warum „schluckt“ ausgerechnet jene Partei, für die seit jeher Minderheitenrechte und Rassismusbekämpfung identitätsstiftende Bedeutung einnahmen, den harten rechtspopulistischen Kurs der ÖVP? Über die Parteichef Werner Kogler im Wahlkampf noch sagte, dass die Chancen „mit dieser türkisen Schnöseltruppe“ zu koalieren bei „Null Prozent“ lägen? Wiederholt argumentieren Parteifunktionäre, dass der Grund zur Koalition das große Klimaschutzpaket und das Super-Ministerium für Klimaschutz, Infrastruktur und Verkehr sei, sowie die hehre Hoffnung „Schlimmeres zu verhindern“.

Eins sei den Grünen jedoch gesagt: Rechtspopulistische Politik, die hetzt und spaltet statt beruhigt, die keine Lösungen anbietet und Brücken niederreißt statt errichtet; diese Politik erzeugt ein kaltes Klima im Land. Klimaschutz braucht aber vorrangig ein gutes, warmes Klima im Land. Eine solidarische Gesellschaft. Sitzen doch alle im selben Boot. Es dürfen die Menschen mit migrantischer Biografie nicht ausgeschlossen werden. Es dürfen die sozial Schwachen nicht ausgeschlossen werden. Sonst wird Klimaschutz ein „Elitenprogramm“, bei dem Bessergestellte und Bürgerliche mit Elektroautos durch die Gegend fahren, Bio-Lebensmittel konsumieren und ihre Kinder auf Privatschulen schicken, wo sie zwar alles über das komplexe und interdisziplinäre Thema des Klimawandels lernen. In einer gespaltenen Gesellschaft jedoch werden Klimaschutz und Nachhaltigkeit immer zynisch klingen. Der Klimaschutz braucht Menschen, die das Land - in dem sie leben, arbeiten, studieren, ihre Kinder groß ziehen, Steuern zahlen - als ihre Heimat empfinden. Eine Vorzeigeregierung muss es schaffen, die Erwärmung der Erdatmosphäre aufzuhalten und gleichzeitig die Herzen der Menschen zu erwärmen.Ökologisch und menschlich: das ist eine Regierung, die begriffen hat, dass ein Land, in dem die Menschen zusammen halten, ein schöneres ist - die Kultur eine stolzere und die Volkswirtschaft eine stärkere. Ökologisch und unmenschlich: Das ist Österreichs neue Regierung.
Doch wer weiß, vielleicht kommt sie bald auf uns zugerollt - eine Welle in Form einer neuen Bewegung. Eine Bewegung, die Menschen durch die Forderung nach einem Wertewandel vereint. Die Menschlichkeit zum Megatrend macht. Die über den Druck aus der Zivilgesellschaft in die Politik Einzug hält. Vielleicht versteht es die politikaffine Jugend, dass es keinen Klimaschutz ohne soziale Gerechtigkeit und Menschlichkeit gibt und begeistert zukünftig die jugendlichen Massen jeden Montag zu #MondaysForHumanity auf die Straßen. Eine bunte Menge, die auf die Straßen geht und von der Politik bedingungslose Menschlichkeit und Nachhaltigkeit einfordert. Eine Menge, die aus Musliminnen mit Kopftuch, jungen Frauen mit Kurzhaarschnitt, Arbeitslosen, Akademikern, Müttern, Arbeiterinnen, Top-Managern, Transgender-Menschen und Punks besteht. Es ist eine Menge, die ihre Mitmenschen nicht nach dem Aussehen und der Herkunft, ihrer Religion oder Beruf - sondern nach dem Grad der gelebten Menschlichkeit beurteilt.

Entwickelte sich Menschlichkeit zum Megatrend; ein opportunistisch-populistischer Machtpolitiker wie Sebastian Kurz wäre der erste, der seinen Kurs wechseln würde, um zum Vertreter von „Menschlichkeitsschutz“ und der „Menschlichkeitswende“ zu werden - sollte er sich bis dahin nicht schon längst in internationale Gefilde „vertschüsst“ haben, um die nächste Stufe seiner Karriereleiter zu erklimmen. Wer auch immer die Macht übernimmt in Österreichs zukünftiger Regierung: Der Zeitgeist verlangt, dem Spuk des menschenfeindlichen Rechtspopulismus ein Ende zu setzen. Denn es blühen schöne Aussichten: Eine ehrliche, ehrenvolle und ethische Politik. Eine Politik, die in der Bevölkerung Vertrauen schürt, eine Politik ohne Angst, ohne Angstmache, eine Politik, die Angstmache nicht mehr braucht, um für Wählerstimmen zu werben. Diese Politik wird eine unglaubliche Sogwirkung ausstrahlen. In einem Land, in dem das Gefühl von Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit dessen Bewohner gegen die billigen Rhetorik-Tricks der Rechtspopulisten immunisiert. In diesem wunderschönen Land der Vielfalt, in dem die Menschen in ihren unterschiedlichen Bräuchen, Religionen und Traditionen zusammenwachsen. In diesem Land wird Klimaschutz zur gelebten kollektiven Selbstverständlichkeit.

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