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Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des „politischen Islam“. Wenn auch mit unterschiedlichen Namen, so scheinen ähnliche Entwicklungen doch auf die gleiche Gemeinschaft abzuzielen: Organisierte Muslim*innen und antirassistische muslimische NGOs in Europa. Von Frankreichs Kampf gegen den sogenannten „Islamo-Gauchisme“, der auf „islamistischen Separatismus“ abzielt, bis hin zu Österreichs Kampf gegen den „politischen Islam“ können wir beobachten, wie Muslim*innenn und die muslimische (und antirassistische) Zivilgesellschaft mehr und mehr unter die Räder der staatlichen Behörden geraten.

Der jüngste, besorgniserregende Trend kommt aus Deutschland, wo nicht die rechtsextreme AfD, sondern die Unionsparteien derzeit eine neue Grundlage schaffen wollen, um in die Fußstapfen des französischen Premiers und des österreichischen Kanzlers zu treten. Während Macron wegen seiner antimuslimischen Gesetzgebung international auf harsche Kritik stieß, blieben die Initiativen von Kurz fast unbemerkt. Aber sie scheinen alle dem gleichen Muster zu folgen: Sie geben vor, die Mehrheit der friedlichen und gesetzestreuen Muslim*innen zu schützen und nur die gefährlichen Muslim*innen ins Visier zu nehmen. Es gibt aber gute Gründe, diese Proklamation in Zweifel zu ziehen.

So heißt es in einer aktuellen Veröffentlichung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: „Islamismus beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Anzahl gewaltbereiter Gefährder. Die dahinterstehende Ideologie ist Gift für unsere freiheitliche Gesellschaft. Sie gefährdet die Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem Musliminnen und Muslime gegen unsere Demokratie aufgehetzt werden." Diese Kreuzritter-Rhetorik ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Aussagen wie diese bauen auf einer langen Geschichte eines problematischen und inzwischen höchst umstrittenen Konzepts des „Kampfes gegen gewalttätigen Extremismus“ oder auf „Deradikalisierungsprogrammen“ auf, die in den letzten zwanzig Jahren im Zuge des ‚War on Terror‘ entstanden sind.

Eine neuere Entwicklung ist, dass die Idee des „Kampfes gegen gewalttätigen Extremismus“ in der Folgezeit auf die Bekämpfung des sogenannten „nicht-gewalttätigen Extremismus“ ausgeweitet wurde. Der Begriff „gewaltfreier Extremismus“ impliziert, dass gewaltfreie muslimische Gruppen das gleiche Ziel hätten wie gewalttätige und sich nur in den Methoden unterscheiden würden. Diese Denkweise hat einen (deutschen) Namen: Legalistischer Islamismus. Mit diesem Begriff werden muslimische Organisationen aus dem Bereich der Zivilgesellschaft ausgegrenzt, indem einzelne Muslim*innen und muslimische Verbände ins Visier genommen werden, die im Rahmen der demokratischen politischen Ordnung arbeiten und Gewalt ablehnen. Diese legalen und gewaltfreien Mittel beschreibt der bayerische Verfassungsschutz folgendermaßen: "Um ihre Ziele zu erreichen, betreiben legalistische Islamisten Kulturvereine und Moscheen, die einerseits der Werbung von Mitgliedern, anderseits der Verbreitung der Ideologie dienen. Über ihre Dachverbände versuchen sie, sich dem Staat als Sprachrohr der Muslime anzubieten." Damit zielt dieses Konzept nicht auf subversive oder militante Personen oder Gruppen, sondern eher auf muslimische Verbände und Initiativen, die sich nicht im Untergrund verstecken, sondern transparent das Gespräch im öffentlichen Diskurs suchen. In Deutschland standen in der Vergangenheit viele muslimische Verbände unter staatlicher Überwachung. Diesem Konzept des „legalistischen Islamismus“ liegt ein Generalverdacht zugrunde, der den Muslim*innen mit Misstrauen begegnet und ihre Integrität zynisch in Frage stellt. Dieser Logik folgend, bestätigen Muslim*innen, die Schlechtes tun, das Stereotyp. Und jenen, die Gutes tun, wird bewusste Manipulation unterstellt.

Während sich in den letzten Jahren die Wogen etwas geglättet hatten und die BRD auch einige Programme zum Kampf gegen anti-muslimischen Rassismus eingerichtet und unterstützt hat, erfährt das Konzept des „politischen Islam/ismus“ seine Renaissance. Aber nicht so, wie Akademiker*innen es verwenden, um zwischen verschiedenen Erscheinungsformen von Politik und Religion im Diskursfeld Islam zu zu unterscheiden. Das Problem mit dem vagen Begriff „politischer Islam/ismus“ in Ländern wie Österreich ist, dass die Regierung den Begriff benutzt, um muslimische Praktiken zu kriminalisieren und kritische Muslim*innen zum Schweigen zu bringen. Darunter fallen Kleidungsverbote, Moscheeschließungen und Razzien. In gewisser Weise wurde der Begriff zur intellektuellen Grundlage, um eine Dämonisierung von organisierten Muslim*innen zu institutionalisieren, die an die anti-kommunistische Hexenjagd in der Zeit des Kalten Krieges erinnert.

Zuletzt scheint die wachsende Hardliner-Position Österreichs, Frankreichs und Deutschlands ineinander überzugehen. Im Oktober 2020 unterzeichnete eine Gruppe bekannter Autor*innen, die auch einige antimuslimische Politiken unterstützten, zum Beispiel Mouhanad Khorchide, Ahmad Mansour und Susanne Schröter, zusammen mit Politikern der CDU/CSU einen offenen Brief mit dem Titel "Fünf Vorschläge zur Stärkung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung angesichts des politischen Islam". In dem Brief wird behauptet, es gebe „segregiert lebende muslimische Communities“ in Deutschland und ebenso, dass „ein verweigerter Handschlag für eine Frau bereits ein Indiz“ für „religiösen Extremismus“ sein könne. Außerdem hieß es in dem Brief: Es wird höchste Zeit, den Problemen der Zuwanderungsgesellschaft offen ins Auge zu sehen und sich nicht durch haltlose Vorwürfe einer angeblichen Islamfeindlichkeit, „Islamophobie“ oder des „antimuslimischen Rassismus“ einschüchtern zu lassen“.

Die Behauptung, der „politische Islam“ sei in Wirklichkeit viel gefährlicher als die militante Gewalt mancher Muslim*innen, ist Teil dieses politischen Vorhabens. Vor wenigen Wochen scheinen die Ideen an Fahrt gewonnen zu haben. Mit dem Vize-Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag als Unterzeichner sind alle fünf Empfehlungen in ein Positionspapier der Regierungsfraktion zum „politischen Islam/ismus“ eingeflossen. Sei es „die Einrichtung einer Dokumentationsstelle „Politischer Islam“ nach österreichischem Vorbild, in welcher die Strukturen, Strategien und Finanzierungen des politischen Islam analysiert und offengelegt werden“, die Einrichtung von zehn Universitätslehrstühlen, die sich der Analyse der Strukturen des „politischen Islam“ in Deutschland widmen, sowie „die Einrichtung eines Expertenkreises“ „Politischer Islam“ im Bundesinnenministerium, der auf Grundlage der Erkenntnisse von Wissenschaft und Verfassungsschutzämtern Empfehlungen im Kampf gegen den politischen Islam erarbeitet und der Bundesregierung regelmäßig berichtet“. All diese Behauptungen werfen ernste Fragen auf. Österreichs Dokumentationszentrum wird größtenteils von Law-and-Order-Politiker*innen geführt, die eine lange Geschichte der Unterstützung antimuslimischer Gesetzgebung haben, welche von mehreren Gerichten, einschließlich des berühmten Verfassungsgerichtshofes, wieder aufgehoben wurde.

Im Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion wird auch argumentiert, dass die staatlichen Behörden aufhören sollten, Verbände des politischen Islamismus zu unterstützen. Im Gegenzug haben die Denkfabriken dieser Fraktion einiges in den letzten Jahren geleistet, um alternative muslimische Einrichtungen als Gegengewicht zu den historisch gewachsenen muslimischen Verbänden zu initiieren. Mit der Stärkung des „deutschen Imam“ sollen nicht nur Geistliche in Deutschland ausgebildet werden, sondern vor allem transnationale Beziehungen abgeschnitten werden, auch wenn diese zu jeder Weltreligion gehören. Um die Gründung von Moscheen besser kontrollieren zu können, schlägt das Papier vor, dem deutschen Nachrichtendienst den Zugriff auf die Financial Intelligence Unit für „Fälle von Extremismusfinanzierung“ zu ermöglichen. Außerdem drängen sie auf „Transparenz über Mitgliedschaft und Finanzierung“ oder anders ausgedrückt: Der Staat will muslimische Verbände so weit wie möglich überwachen, was sein Misstrauen gegenüber einer wachsenden Minderheit von mindestens fünf Millionen Menschen widerspiegelt.

All diese Forderungen scheinen die säkulare Idee der Trennung von Staatsmacht und Kirche/Religionsgemeinschaften schwer zu verletzen, auch wenn in dem Papier tunlichst versucht wird, diesen auf der Hand liegenden Vorwurf von sich zu weisen. Während derlei Ansätze bei keinen anderen Religionsgemeinschaften verfolgt werden, sind es de facto lediglich Muslim*innen, die einer derartigen Behandlung ausgesetzt sind.

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