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Nach der Vergiftung des Kremlkritikers Aleksej Nawalny und den Unruhen in Belarus sollte die EU endlich geschlossener gegen Russland agieren. Die Ungereimtheiten zwischen den EU-Mitgliedern könnten zu spürbaren Problemen führen.

Am 8. Dezember 1991 ist nach Abschluss des Belawesh-Abkommens die offizielle Existenz der 69-jährigen Sowjetunion beendet worden. Nach exakt acht Jahren, am 8. Dezember 1999, wurde ein neuer Vertrag zwischen Russland und Belarus über die Gründung des Unionsstaates abgeschlossen. Russland betrachtete die ehemaligen Sowjetstaaten immer schon als persönliche Einflusszone. Die unmittelbar nach dem Auflösungsvertrag gegründete Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) sollte für Russland nur als eine Übergangsphase dienen, um die ehemaligen Sowjetrepubliken weiterhin im Griff zu haben und eine neue Union zu gründen. Russlands Präsident Wladimir Putin hat bereits mehrfach in seinen Aussagen die Auflösung der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.

Nach der Verfassungsreform vom 1. Juli 2020 darf Putin noch zweimal in den Präsidentschaftswahlen kandidieren – was ihm prinzipiell ermöglicht, bis 2036 an der Macht zu bleiben. Die abgeänderte Verfassung sichert Putin nicht nur seine innenpolitische Führung, sie eröffnet ihm auch mehr Einflussmöglichkeiten in postsowjetischen Ländern. Laut dem aktualisierten Artikel 69 soll Russland nämlich im Ausland lebende Landsleute „bei der Ausübung ihrer Rechte, Gewährleistung des Schutzes und Bewahrung der gesamtrussischen kulturellen Identität“ unterstützen. Diese Punkte wurden bereits während des Georgien-Krieges und der Ukraine-Krise umgesetzt. Nun möchte Russland seine militärische Präsenz in der Region noch weiter ausbauen. Dennoch steckt der Kreml in der Krise: wegen der Corona-Pandemie und der angespannten Beziehung mit der EU aufgrund des Giftanschlags auf Alexej Nawalny sowie der Einmischung nach den Wahlen in Belarus.

Die Unruhen in Belarus und der Giftanschlag auf Nawalny

Der aktuelle Wahlaufstand in Belarus wird auch durch nationalistische Parolen begleitet. Beispielsweise wurde eine Flagge der Weißrussischen Volksrepublik aus dem Jahr 1918 auf die Straße getragen. Darauf stand auf Belarussisch geschrieben: „Жыве Беларусь!“ (Es lebe Belarus!). Es war eine Aufforderung zur Wiederherstellung der Muttersprache, die nicht auf Russisch, sondern auf Belarussisch kommuniziert wurde.

Das hat ein klares Zeichen gesetzt. Das ganze Geschehen findet während der Corona-Krise und der Unruhen in der russischen Stadt Chabarowsk statt. Man kann bereits durch die Vorkommnisse in Belarus und Chabarowsk von einem sich entwickelnden slawischen Aufstand sprechen, bei dem die gegenseitige Unterstützung durch Parolen und Proteste zur Schau gestellt wird.

Die jüngste Vergiftung Nawalnys hat die Eskalation in der russischen Gesellschaft noch weiter vertieft. Die Politik der physischen Beseitigung von Oppositionellen ist aber keine Erfindung der Putin-Administration. Diese gezielte Auslöschung bzw. Ermordung eines Oppositionellen gab es bereits bei Stalin und wird seit Putins Amtszeit weiterhin erfolgreich umgesetzt. So wurden Kritiker wie Anna Politkowskaja oder Boris Nemtsov in der Öffentlichkeit erschossen. Im Ausland lebende Oppositionelle wie Alexander Litwinenko und Sergej Skripal wurden vergiftet.

Das ganze Geschehen hat selbstverständlich die Beziehung zwischen Russland und der EU weiter belastet, wobei sich das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau schon seit ein paar Jahren kontinuierlich verschlechtert. Die Cyberattacke auf den Bundestag im Jahr 2015 oder die Tötung eines Tschetschenen mit einem georgischen Pass in Berlin im Jahr 2019 hatten bereits beträchtliche negative Auswirkungen mit sich gebracht.

Des Weiteren findet im nächsten Jahr die Bundestagswahl statt. Russlands wird bemüht sein, über in Deutschland betriebene russische Medien die Wahlen zu beeinflussen. Die hier aufgeführten Tatsachen sowie die Ereignisse um Belarus und Nawalny geschehen allesamt parallel zum noch nicht vollendeten Projekt Nord Stream 2. Dadurch sollen Deutschland und einige andere europäische Länder wie Tschechien und Österreich mit russischem Gas beliefern werden – für einen günstigen Preis.

Das Fehlen einer kohärenten Außenpolitik der EU – eine nie endende Geschichte

Die Außenpolitik der EU ist eine Schwachstelle. Obwohl am 17. September 2020 das Europäische Parlament zwei Beschlüsse angenommen hat: zur Lage in Russland wegen dem Giftanschlag an Nawalny sowie zur Lage in Belarus. Darin wird zu harten Sanktionen gegen Russland und Belarus aufgefordert. Doch in der Realität scheitert die Umsetzung: Während die osteuropäischen EU-Länder eine Verhängung von Sanktionen gegen Belarus durchaus befürworten, blockierte zuletzt Zypern dieses Vorhaben am 21. September durch sein Veto-Recht.

Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Verbesserung der Beziehungen mit Russland befürwortet und sich die Sicherheit Europas ohne Zusammenarbeit mit Moskau nicht vorstellen kann, arbeiten die USA wiederum daran, eine Koalition gegen Nord Stream 2 zu bilden. In einem Interview mit dem Bild-Chefredakteur hat der Außenminister der Vereinigten Staaten, Mike Pompeo, folgende Aussage getroffen:

„Aus Sicht der USA gefährdet Nord Stream 2 Europa, weil es von russischem Gas abhängig macht und gefährdet die Ukraine – was meiner Ansicht nach viele Deutsche besorgt. Wir hoffen, dass Nord Stream 2 nicht fertiggestellt wird und wir arbeiten an einer Koalition, um dies zu verhindern (...).“

Man kann sich bereits heute gut vorstellen, welche osteuropäischen Länder sich wohl dieser Koalition anschließen werden. Die baltischen Länder, Polen und die Ukraine stellten sich von Anfang an gegen dieses Projekt, weil deren Sicherheit auf dem Spiel steht.

Berlins Position in solch einer schwierigen Konstellation ist nicht einfach. Einerseits betont Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass Nord Stream 2 kein politisches, sondern lediglich ein wirtschaftliches Projekt ist. Andererseits kommt das Projekt wegen der bevorstehenden Bundestagswahl sowie der etwaigen US-Sanktionen ins Stocken. Man kann sicher davon ausgehen, dass Berlin die Geschehnisse um Nawalny und Belarus solange abwarten wird, bis sie im Sande verlaufen sind bzw. demnächst Verhandlungen mit den USA führen wird, um konkret Stellung zu beziehen.

Die USA und Russland haben stets von der fehlenden Geschlossenheit innerhalb der EU profitiert, wodurch sie sich in die Angelegenheiten der einzelnen EU-Staaten immer wieder zweckdienlich einmischen konnten. Von der aktuellen Lage in Europa scheinen die USA mehr zu profitieren, weshalb sie ihre Politik viel besser durchzusetzen können. Russland hingegen könnte durch das Scheitern von Nord Stream 2 nicht nur allein auf den Kosten des Projektes sitzen bleiben, auch das laufende Projekt Turkish Stream könnte nach der Entdeckung von Gasvorkommens durch die Türkei seine Bedeutung verlieren.

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