Es ist wieder Hochsaison für Sicherheitsexperten. Anstatt das Thema Pandemie ständig rauf und runter zu beten, darf sich die Öffentlichkeit nun mit dem Szenario eines handfesten Kriegs befassen. Der Diplomatie dient die mediale Dauerbeschallung im Namen von Mobilisierung und begrenzten Nuklearschlägen gegen Russland, die US-Senatoren in den Raum stellen, sicher nicht.
Washington und Brüssel sind nervöser als Kiew
Ein kriegerisches „excitement“ ist in den US-Medien und ebenso in den EU-Räten spürbar. Einige Außenminister kleiner EU-Staaten verkünden bereits großspurig die nächsten Russland-Sanktionen, auch wenn deren Unternehmen darunter mehr leiden als US-Konzerne. Daher sah sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi vor einigen Tagen bemüßigt, für Beruhigung zu sorgen, denn die Gefahr eines russischen Angriffs sei „nicht größer als zu jeder Zeit seit 2014“. Zudem finde eine Eskalation „nur in den Medien, aber nicht in der Realität“ statt, so der Staatschef. Westlich von Kiew ist man also päpstlicher als der Papst und will offenbar um jeden Preis, auch den einer Konfrontation mit unabsehbaren Folgen, die Ukraine in die NATO holen. London mischt mit der Entsendung von Truppen in die Ukraine bereits an vorderster Front mit. Klug ist das nicht, aber so mancher Regierungschef lenkt dank Ukraine-Krise von den eigenen Problemen ab. Auf Premier Boris Johnson trifft dies ganz besonders zu.
Wenn die Menschen in Kiew auf die Straße gehen, dann nicht um für oder gegen einen Waffengang zu demonstrieren. Sie sorgen sich um neue Steuerlasten. Auch in Deutschland sind die Menschen verständlicherweise schon ein wenig apathisch. Wieder einmal zeigt sich, wie weit entfernt die Lebenswirklichkeit der Menschen von der Agenda vieler Redaktionen und Regierungen ist. Anstatt objektiv den Sachverhalt zu erklären, sodass sich die Zuschauer selbst ein Bild machen können, findet vielmehr eine Propaganda statt, in der seit Monaten von einem „unmittelbar bevorstehenden russischen Einmarsch“ die Rede ist. Ginge es nach dem größten europäischen Zeitungsverlag Axel Springer, so wären russische Truppen nun bereits seit einer Woche in der Ukraine. Denn die „Bild“ veröffentlichte „Angriffspläne“ und datierte diese auf den 21. Januar 2022.
Ein Krieg aus Versehen?
Immer wieder wird das Szenario beschworen, dass die Welt angesichts dieser massiven Mobilisierung in einen Krieg hineinstolpert, den vielleicht keiner wollte. „War by accident“ lautet das Problem, das immer und überall lauert, auch im östlichen Mittelmeer oder im Südchinesischen Meer, wo viele Flottenverbände unterwegs sind. Und ja, dieses Risiko besteht, denn manche Entscheidungsträger in der NATO scheinen ihr totales Debakel in Afghanistan vor einigen Monaten bereits vergessen zu haben.
Es folgte keine Manöverkritik, um aus Fehlern zu lernen. Vielmehr wird zur nächsten Militäroperation geblasen. Hierbei überbieten sich Denkfabriken, Chefredakteure und Politiker mit Kritik an Präsident Putin. Wer Aussagen tätigt, die als „russlandfreundlich“ interpretiert werden, muss sofort von der Bildfläche verschwinden. Nur Paris schafft den Spagat und präsentiert sich als EU-Vorsitz und Verhandlungsort, um das 2014 ebenfalls von der französischen Diplomatie geschaffene Normandie-Format zwecks Lösung der vielen Aspekte der Ukraine-Krise zu reaktivieren.
Russische Bedenken
Am 17. Dezember übermittelte das russische Außenministerium der NATO und Washington einen Entwurf von Punkten, die aus der Sicht Moskaus gemeinsam mit den USA zu lösen sind. Es geht darunter auch um eine mögliche nächste Runde einer NATO-Osterweiterung. Entgegen der Zusagen der USA Anfang der 1990er Jahren, die NATO werde die ehemaligen Ostblockstaaten nicht aufnehmen, erfolgten bald weitreichende Expansionen. 2008 baten auch Georgien und die Ukraine um einen Kandidatenstatus. Berlin und Paris lehnten dies strikt ab. Das Thema köchelt seither.
Anfang 2014 stellte die EU die Ukraine über einen Assoziierungsvertrag vor die Wahl, sich entweder an der EU auszurichten oder nach Moskau zu blicken. Die Brüsseler Politologen übersahen völlig das Dilemma: Die Ukraine hat eine russische Millionenbevölkerung und ist historisch eng mit Russland verbunden. Kiew ist die Wiege russischer Kultur. Schriftsteller wie Michail Bulgakov sahen sich nicht als entweder Ukrainer oder Russe, sondern als sowohl als auch.
Die Krimkrise löste dann die völlige Eiszeit zwischen Moskau und dem Westen aus. Die damals beschlossenen Sanktionen haben die russische Wirtschaft nicht zerstört, auch kam es nicht zu den inneren Unruhen, die sich offenbar einige wünschten.
Seither hat Russland seine Industrie nur weiter diversifiziert, kooperiert enger mit Partnern ob in Asien oder im Nahen Osten und verfügt anders als die meisten Mitglieder der NATO über funktionierende Streitkräfte. Ein Krieg, den niemand will, könnte die NATO in die Bredouille bringen. Denn waren es am Hindukusch nur die schlecht ausgerüsteten Taliban, welche die westlichen Soldaten binnen eines Tages aus Kabul vertrieben, so könnte eine Konfrontation mit Russland und vielleicht zeitgleich mit China für die NATO kaum zu bewältigen sein