Bundespräsident Steinmeier (links) und sein kasachischer Amtskollege Tokajew / Photo: AA (AA)
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Mitte Juni unternahm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine historische Zentralasienreise mit Besuchen in Kasachstan und Kirgisistan. Mit seinen Amtskollegen aus den beiden Ländern – Kassym-Jomart Tokayev bzw. Sadyr Japarov – diskutierte er hauptsächlich wirtschaftliche und logistische Fragen sowie den Krieg in der Ukraine. In Astana unterzeichneten die deutsche und die kasachische Delegation neun Dokumente, die die Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Stellen beider Länder umfassen und neue bilaterale Investitions- und Bildungsprojekte initiieren.

Der Besuch von Präsident Steinmeier in Zentralasien signalisiert das Interesse Deutschlands an regionaler Geopolitik angesichts der anhaltenden globalen Krisen. Dieser Besuch kann auf zwei Ebenen bewertet werden: Berlins eigene Agenda (Zeitenwende) und im EU-Rahmen.

Steinmeiers Besuch in Zentralasien und Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie

Die Aktivitäten Berlins in Zentralasien haben ihre eigene Agenda, auch wenn sie mit dem gestiegenen Interesse Brüssels an der Region einhergehen. Der jüngste Besuch fand im Anschluss an die Veröffentlichung der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands statt. Obwohl sich dieses Dokument nicht speziell auf zentralasiatische Staaten bezieht, enthüllt ein durchgesickerter Dokumententwurf des deutschen Außenministeriums, der dem deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vorliegt, dass die Bundesregierung plant, ihren Fokus auf zentralasiatische Staaten zu verlagern, um eine mögliche Dominanz Russlands oder Chinas abzuschwächen. Der dramatische Wandel in der Berliner Außenpolitik steht im Einklang mit der Zeitenwende-Politik der aktuellen Regierung, die darauf abzielt, die gescheiterte Russland-Politik zu korrigieren und sich mit den neuen Realitäten im postsowjetischen Raum auseinanderzusetzen.

Berlin misst Kasachstan große Bedeutung bei, das als „einer der 50 wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschlands sowie eines der vier wichtigsten Länder für die Ölversorgung dieses Landes“ bezeichnet wurde. Kasachstan kann die deutsche Wirtschaft mit Energie und den notwendigen Rohstoffen versorgen, was in der aktuellen schwierigen geopolitischen und geoökonomischen Zeit besonders wichtig ist.

Auch bekundete die deutsche Delegation ihr Interesse an der transkaspischen internationalen Transportroute, auch Mittlerer Korridor genannt: Trotz des engen Zeitplans besuchte Steinmeier den Hafen von Kuryk und machte sich mit neuen Transport- und Logistikprojekten im Rahmen der Entwicklung des Mittleren Korridors vertraut. Der Hafen von Kuryk liegt an der Ostküste des Kaspischen Meeres. Heute beträgt die Produktionskapazität sechs Millionen Tonnen Fracht pro Jahr. Es wurde festgestellt, dass Kasachstan daran interessiert ist, das Gütertransportvolumen auf dieser Route mittelfristig auf 10 Millionen Tonnen zu erhöhen und bereit ist, seine Hafenanlagen bereitzustellen, um den wachsenden Bedarf deutscher und europäischer Partner zu decken.

Warum Türkiye notwendig ist

Angesichts des zunehmenden Interesses an Zentralasien sollten sich die europäischen Politiker jedoch darüber im Klaren sein, dass dieser Schwenk nach Osten mit der direkten Beteiligung von Türkiye und in gewissem Maße auch von Aserbaidschan effektiver sein wird, da diese beiden Länder normalerweise als Tandem agieren und als Brücke zwischen Osten und Westen fungieren.

Der von deutscher Seite sehr geschätzte Mittlere Korridor kann als türkisches Konzept angesehen werden: Er beginnt in Türkiye und verläuft durch die Kaukasusregion über Georgien und Aserbaidschan, überquert das Kaspische Meer, durchquert Zentralasien und erreicht China über die Route Turkmenistan-Usbekistan-Kirgisistan oder Kasachstan. Auf dieser Route sind die Häfen Baku/Alat (in Aserbaidschan), Aktau/Kuryk (in Kasachstan) und Turkmenbashi (in Turkmenistan) die Hauptpunkte des multimodalen Transports auf dem kaspischen Transitkorridor. Nachdem der Mittlere Korridor nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine große Bedeutung erlangt hat, kann er Europa mit Zentralasien und China nur über Türkiye verbinden, das den Binnenländern Zentralasiens als Fenster nach Europa dient. Interessanterweise war eine der Infrastruktureinheiten, die Steinmeier in Kuryk besuchte, das Ro-Pax-Schiff Zarifa Aliyeva, die größte Fähre im Kaspischen Meer, die der Aserbaidschanischen Kaspischen Schifffahrtsgesellschaft (ASCO) gehört und eingesetzt wird, um die Kapazität des Mittleren Korridors zu erhöhen.

Darüber hinaus wird das begehrte kasachische Öl heutzutage über die Ölpipeline Baku-Tiflis-Ceyhan nach Europa geliefert – eine strategische Infrastruktur, die von Aserbaidschan und von Türkiye gebaut wurde und durch diese verläuft. Um die Routen des Ölexports zu diversifizieren, erhielt die kasachische Seite eine Quote von 1,5 Millionen Tonnen für den Transport ihres Rohöls über die Pipeline und erwägt eine weitere Erhöhung auf 6 bis 6,5 Millionen Tonnen pro Jahr.

Türkiye ist in der Region ein bedeutender Akteur mit militärischer und Soft Power

Abgesehen von den Infrastrukturprojekten sollte man die Soft Power von Türkiye in der Region nicht außer Acht lassen. Durch ethnolinguistische Beziehungen zu allen zentralasiatischen Ländern außer Tadschikistan trat Türkiye Anfang der 1990er Jahre politisch und wirtschaftlich aktiv in die Region ein. Es gehört immer noch zu den wichtigsten Handelspartnern der zentralasiatischen Staaten, wobei türkische Unternehmen in vielen Wirtschaftssektoren, beispielsweise im Baugewerbe, dominieren. Hinzu kommt die Soft Power von Türkiye, die durch Bildung und Filme gefördert wird, die in dieser Region sehr geschätzt werden.

Der Sieg Aserbaidschans in Karabach, der auch dank der hochmodernen türkischen Waffen gesichert wurde, lenkte die Aufmerksamkeit auf die in Türkiye hergestellten Militärprodukte. Nach dem selbstbewussten Vormarsch in den Südkaukasus stärkt die türkische Seite nun ihren politischen und militärischen Ruf in Zentralasien: Kirgisistan und Turkmenistan haben ihre Bayraktar TB-2 erhalten, während Kasachstan nicht nur an der Beschaffung türkischer Drohnen, sondern auch an deren Koproduktion interessiert ist. Die beiden Länder einigten sich 2022 darauf, gemeinsam Anka-UAVs türkischer Herkunft herzustellen. Usbekistan, ein weiterer wichtiger Staat der Region, unterzeichnete wiederum ein Abkommen mit Türkiye über militärische Zusammenarbeit.

Die Drohnendiplomatie läuft parallel zu anderen türkischen Initiativen in der Region, etwa der Organisation türkischer Staaten (OTS). Die OTS basierte lose auf einem Modell der Europäischen Union und stieß bei ihrer Entstehung auf große Skepsis. Allerdings wurde sie in den letzten Jahren institutionalisiert, und es entstehen immer mehr Gespräche und Erwartungen über die regionale Integration, insbesondere angesichts der russischen Invasion in der Ukraine: Die von Russland geführten eurasischen Strukturen, denen einige der zentralasiatischen Länder angehören, könnten zugunsten türkischer geopolitischer Projekte ihre Gültigkeit und Attraktivität verlieren.

Deutschland betritt eine komplexe und abgelegene Region, die im 19. Jahrhundert ein Schlachtfeld des Großen Spiels (zwischen Großbritannien und Russland) war. Heutzutage zieht die Region mehr externe Mächte wie China und Indien mit wachsendem politischen und wirtschaftlichen Einfluss an. Wenn Deutschland und/oder die EU ihren Einfluss und ihre Präsenz in dieser Region ausbauen wollen, sollten sie mit Türkiye, ihrem Verbündeten in der NATO, zusammenarbeiten.

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