Ein Mann schwenkt die ukrainische und die polnische Flagge während einer Demonstration vor einem Gebäude, in dem russische Diplomaten untergebracht sind - aufgenommen in Warschau, Polen, Sonntag, 13. März 2022. (AP)
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von Ali Özkök Dr. Jakub Bornio ist Politikwissenschaftler mit Spezialgebiet „Internationale Beziehungen“ an der Universität Breslau. Er war in der Regionalvertretung der Europäischen Kommission tätig und forscht unter anderem zum Themenkomplex der europäischen Sicherheit mit Schwerpunkt Osteuropa.

Im Gespräch mit TRT Deutsch äußert sich der Wissenschaftler zum Krieg in der Ukraine und welche Auswirkungen dieser auf die Lage in Polen hat.

Vor drei Wochen wurde die gesamte Ukraine zu einem Kriegsschauplatz. Wie groß und wie real ist die Sorge, dass die militärische Eskalation auch Polen betreffen könnte?

Es gibt zwei Ebenen, die wir berücksichtigen sollten, wenn wir über Sorgen in Polen sprechen. Zum einen die gesellschaftliche Wahrnehmung, die mit 70 Prozent der Polen, die bereits vor der Invasion einen Krieg befürchtet hatten, ein relativ hohes Maß an Besorgnis aufweist. Zum anderen gibt es die politische und fachliche Wahrnehmung, die versucht, die Möglichkeit eines solchen Szenarios zu bewerten.

Wenn man bedenkt, dass Polen ein NATO-Mitglied ist, bleibt das Risiko einer direkten Konfrontation mit diesem Land gering. Vor allem, wenn man bedenkt, welche Probleme die russische Armee bereits bei der Eroberung von Gebieten in der Ukraine und der Bekämpfung der ukrainischen Armee hat. Stellen Sie sich vor, welche Art von Unterstützung und Reaktion ein möglicher Angriff auf Polen oder ein anderes NATO-Mitglied ausgelöst hätte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die NATO die Ukraine in relativ hohem Maße mit Panzerabwehrwaffen, MANPADs und anderen Waffen unterstützt.

Natürlich wünscht sich die Ukraine mehr, aber das ist ein Thema für eine andere Diskussion. Ungeachtet der Tatsache, dass eine groß angelegte Konfrontation äußerst unwahrscheinlich ist, kann man einige provokative Zwischenfälle vonseiten Russlands in der Region nicht ausschließen. Ich möchte daran erinnern, dass das strategische Ziel Russlands darin besteht, die NATO und vor allem die USA aus Mittel- und Osteuropa zu vertreiben. In diesem Zusammenhang würde es für Russland ausreichen, die kollektiven Sicherheitsgarantien der NATO zu untergraben.

Wichtig ist auch, dass Russland weder die baltischen Staaten noch Polen besetzen muss, um dieses Ziel zu erreichen. Es reicht aus, die Kohärenz zwischen den NATO-Mitgliedern zu stören. Dies vorausgeschickt, sollte man die Reaktionen der NATO auf die russischen Aktivitäten beobachten. Wenn sie in Moskau nicht als entschlossen genug wahrgenommen werden, wer weiß, wie sich Russland dann verhalten würde? Mit anderen Worten: Um eine Eskalation zu verhindern, muss die NATO hart sein, sie muss klar ihre Fähigkeiten und ihre Bereitschaft demonstrieren, im Falle JEGLICHER Provokationen zu reagieren.

In Moskau hielt man offenbar einen militärischen Sieg über die Ukraine innerhalb weniger Tage für möglich. In Wirklichkeit verläuft der Vormarsch viel langsamer als erwartet. War dieser Verlauf aus polnischer Sicht zu erwarten - und ist eine Besetzung Kiews und der Gebiete östlich des Dnjeprs wahrscheinlich?

In Polen waren sich die Analysten durchaus bewusst, dass die Eroberung der Ukraine und, falls sie gelingt, die künftige Besetzung dieses Landes Russland viel kosten und Moskau einfach nur leiden lassen würde. Daher hielten einige von ihnen - zu denen auch ich gehörte - eine groß angelegte Operation für unwahrscheinlich.

Gleichzeitig betonte ich nachdrücklich, dass eine solche Operation nicht ausgeschlossen werden könne, da Moskau andere Einflussmöglichkeiten auf die Ukraine verloren habe. Die militärische Option war also die einzige, die übrig blieb. Gleichzeitig haben wir nicht mit einem so großen Widerstand der Ukrainer gerechnet und schon gar nicht damit, dass die russischen Streitkräfte so viele Lücken und Mängel aufweisen. Die Moral der Soldaten und andere Faktoren wie die geografische Lage und die militärische Unterstützung von außen spielen bei diesem Feldzug eine große Rolle.

Gleichzeitig warne ich davor, in dieser Phase zu optimistisch zu sein. Es scheint, dass Russland seine Kräfte neu gruppiert und sich auf eine weitere Offensive vorbereitet. Es ist schwer, eine Vorhersage darüber zu treffen, wie diese verlaufen wird. Wie ich bereits sagte, kann ich mir mit Blick auf die Moral der Soldaten und die radikalisierte Haltung der Ukrainer gegenüber Russland nicht vorstellen, dass eine russische Besetzung des linken Ufers der Ukraine für Moskau gut ausgehen würde.

Welche Rolle spielen Polens Armee und Geheimdienste bei der Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte?

Polen hat sich nicht nur in militärischer, sondern auch in ziviler Hinsicht als das entscheidende Hinterland der Ukraine erwiesen. Seit Beginn der russischen Kriegseskalation gehört Polen zu den Ländern, die die Ukraine mit militärischer Ausrüstung versorgen, darunter den in Polen hergestellten und äußerst wirksamen Piorun-MANPADs, verschiedenen Munitionstypen, Gewehren, Mörsern und seit kurzem auch den leichten Panzerabwehrgranatwerfer Komar mit einem Schuss.

Aufgrund seiner geografischen Lage dient Polen auch als Transportdrehscheibe für Ausrüstungslieferungen an die Ukraine. Polen engagiert sich auch politisch und versucht, die externe Militärhilfe für die Ukraine auf der gemeinsamen NATO-Ebene auszuweiten. Was die nachrichtendienstliche Tätigkeit betrifft, so ist sie aufgrund ihrer Art schwer zu beurteilen. In Anbetracht des massiven Zustroms ukrainischer Flüchtlinge nach Polen würde ich erwarten, dass sich die Geheimdienste mehr auf dieses Thema konzentrieren.

Vor kurzem hat die polnische Agentur für innere Sicherheit an der polnisch-ukrainischen Grenze einen spanischen Journalisten festgenommen, der im Verdacht steht, für Russland zu spionieren. Außerdem hat der polnische Geheimdienst einige Defizite, weshalb ich nicht erwarte, dass er viel zur militärischen Aufklärung im Sinne der ukrainischen Streitkräfte beitragen wird. Das ist eher eine Rolle, die die US-Geheimdienste im Moment spielen.

Erwarten Sie, dass die meisten der ukrainischen Flüchtlinge, die jetzt nach Polen kommen, dort dauerhaft bleiben werden?

Bis zum 16. März überquerten nach Angaben des polnischen Grenzschutzes 1,9 Millionen ukrainische Flüchtlinge die Grenze zu Polen. Das erfordert vom Staatsapparat und von der Gesellschaft eine Menge Anstrengungen. Das künftige Schicksal dieser Menschen hängt sehr stark vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ab. Ich rechne nicht mit einem baldigen Ende dieses Krieges, so dass diese Menschen sich irgendwo niederlassen müssen. Ein Teil von ihnen zieht zu ihren Familien in andere EU-Länder und betrachtet Polen nur als Umsteigestation.

Dennoch sollte man angesichts der großen ukrainischen Diaspora, die schon vor der erneuten Eskalation des Krieges in Polen gelebt hatte (nach manchen Schätzungen waren es sogar zwei Millionen Menschen), davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Flüchtlinge hierbleiben wird. Es bleibt die Frage, wie viele von ihnen vom Arbeitsmarkt aufgenommen werden und wie viele von ihnen eine Wohnung finden werden. Zurzeit werden die meisten von ihnen von gewöhnlichen Polen in ihren Privatwohnungen und Häusern sowie von den örtlichen Behörden aufgenommen. Die meisten dieser stolzen Ukrainer wollen sich jedoch selbst versorgen, damit sie nicht zu sehr auf die Hilfe anderer angewiesen sind.

Welche Rolle kann die Türkei jetzt spielen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Die Türkei ist nach wie vor ein wichtiger geopolitischer Akteur in der Region, der einen großen Beitrag zur militärischen Unterstützung der Ukraine leistet. Gleichzeitig wurde die Türkei zu einem der wichtigsten Drehkreuze für den russischen Flugverkehr, nachdem andere Länder Moskau mit Sanktionen belegt hatten.

Die Frage sollte jedoch nicht lauten, wie die Türkei zur Deeskalation beitragen kann, sondern was die Türkei will oder tun würde. Das sind zwei verschiedene Dinge. Es gibt große Bemühungen von regionalen Führern, auch von polnischer Seite (Duda besuchte jüngst Erdoğan), die Türkei in ihren Beziehungen zu Russland härter zu machen. Dennoch erwarte ich nicht, dass Ankara von seiner Politik des „Ausgleichs“ zwischen Russland und der Ukraine abrückt. Vielen Dank für das Gespräch!



TRT Deutsch