Archivbild – 28.07.2020, Niedersachsen, Emmerthal: Dampf steigt aus den Kühltürmen des Atomkraftwerk (AKW) Grohnde im Landkreis Hameln-Pyrmont auf, während im Hintergrund Windräder zu sehen sind. (dpa)
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Es ist der Tag danach, als in Deutschland Zehntausende Hand in Hand zusammenstehen. 11. März 2011: Nur wenige Stunden zuvor hat sich viele Tausend Kilometer weiter das ereignet, was als größter anzunehmender Unfall in die Geschichte eingehen wird. In Baden-Württemberg bilden Atomkraftgegner eine kilometerlange Menschenkette. Der Protest war lange geplant, der Widerstand gegen AKW existiert in Deutschland schon seit Jahrzehnten. Doch nach dem Erdbeben in Japan bekommt er ungeahnte Aktualität. Die nukleare Gefahr ist plötzlich Realität. Die Welt verfolgt das Inferno von Fukushima in Echtzeit.

In Deutschland beginnt ein Wochenende, an dessen Ende ein historischer Entschluss stehen wird. Am Montag tritt Angela Merkel vor die Presse. „Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, sagt die Bundeskanzlerin. Sie spricht dabei auch als Vorsitzende der CDU und als Physikerin. Als eine Frau, die ein solches Unglück in einem Hochtechnologieland wie Japan nicht hatte kommen sehen.

Merkel verkündet nach dem Super-GAU in Japan die Kehrtwende. Deutschland verabschiedet sich aus der Atomenergie, schaltet wenige Monate später gleich 8 von 17 Reaktoren ab. Die Folgen des Tsunami rütteln die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP wach – die nur wenige Wochen zuvor noch eine Laufzeitverlängerung der Atommeiler beschlossen hatte. Die Ereignisse überschlagen sich.

Im Land der Menschenkette wird Winfried Kretschmann am 27. März der erste Grünen-Ministerpräsident Deutschlands – und setzt damit in Baden-Württemberg einer jahrzehntelangen CDU-Ära ein Ende. Weitere Wahlerfolge der Grünen sollten die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig prägen.

Laufzeitverlängerung erweisen sich als Problem

„Ich kann das immer nur mit der Vorgeschichte erklären“, sagt Jürgen Trittin, wenn man ihn nach den Ereignissen jenes Frühjahrs fragt. Als Umweltminister der rot-grünen Koalition brachte er den Atomausstieg auf den Weg: Deutschland, so steht es im Ausstiegsgesetz von 2002, solle bis 2021 kein AKW mehr betreiben. Das war der Plan vor der Laufzeitverlängerung. Zur Kehrtwende der Kanzlerin nach Fukushima sagt der Grünen-Politiker, dass sich Merkels Qualität dadurch auszeichne, „dass sie nicht zweimal gegen die gleiche Wand“ laufe.

Aber die Wand hat es in sich. Die Laufzeitverlängerung erweist sich als Kernproblem. Schadenersatzansprüche von Betreiberfirmen hätte es ohne sie nicht gegeben, sagt Trittin. Knackpunkt: weggefallene Strommengen, mit denen die Konzerne nach früheren Plänen gerechnet hatten und nicht mehr erzeugen durften.

Überraschend gibt es dazu nun, zehn Jahre danach, eine Einigung. Die Konzerne Vattenfall, Eon, RWE und EnBW sollen zusammen knapp 2,43 Milliarden Euro Entschädigung erhalten – auch für hinfällig gewordene Investitionen. Dem Durchbruch, der am vergangenen Freitag offiziell bekanntgegeben wurde, ging ein jahrelanger Rechtsstreit voraus. Der wäre mit der jetzigen Vereinbarung ebenfalls beigelegt. Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht den Anspruch der Konzerne mehrmals bestätigt.

Zukunft der Energiewende noch unklar

Noch offen ist dagegen die Zukunft der Energiewende – auch das ist eine Folge des schnelleren Atomausstiegs. Wind- und Sonnenergie bekommen einen historischen Schub. 2000 beträgt der Anteil der erneuerbaren Energien an der Bruttostromerzeugung noch 6,6 Prozent. Im vergangenen Jahr waren es nach Angaben des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft 44,6 Prozent. Bis 2030 will Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) bis zu 80 Prozent erreichen.

Parallel geht der Atomenergie-Anteil zurück. Aktuell sind noch sechs AKW in Deutschland am Netz. Dagegen stützen Länder wie Frankreich oder Finnland ihre Energieversorgung aus Überzeugung auf Nuklearenergie. Auch China baut kräftig aus. Selbst im Super-GAU-Land Japan ist Ausstieg keine Option.

Ein deutscher Sonderweg? Oder Irrweg gar? Nein, sagt Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Umweltministerium. Erneuerbare Energien würden immer günstiger, Atomenergie rentiere sich nicht, sei auch kein Beitrag zum Klimaschutz. Diejenigen, die sich nach ihr zurücksehnten oder gar neue Reaktortypen anpriesen, nennt Flasbarth „Realitätsverweigerer“. Für ihn ist klar: Einen Weg zurück kann es nicht geben. Auch wenn noch viele Fragen offen sind.

Etwa die nach einem Endlager für den hochradioaktiven Müll. Das soll bis 2031 gefunden sein. Die Vorsitzende des Bundestags-Umweltausschusses, Sylvia Kotting-Uhl, hält diesen Zeitplan für unrealistisch. Sie kritisiert wie viele Grüne auch das Tempo der Energiewende, dass in Deutschland weiterhin Uran angereichert werde und dass Brennelemente für den Export ins Ausland produziert würden – auch über 2022 hinaus. „Wir werden noch über vieles diskutieren müssen“, sagt Kotting-Uhl, die damals in den Stunden der Katastrophe in der Menschenkette stand.

Auch zehn Jahre nach Fukushima reißt der Protest nicht ab. Klima- und Anti-Atom-Aktivisten sind alles andere als still – auch wenn sie derzeit keine Menschenketten bilden dürfen. Sie haben alte Sorgen und neue Fragen. Ob ihre Mobilisierungsmacht reichen wird, um Winfried Kretschmann erneut ins Amt zu tragen, wird sich am 14. März zeigen. Dann wird in Baden-Württemberg wieder gewählt.

dpa