Bei dem Nato-Luftangriff in Kundus auf zwei Tanklastzüge starben ungefähr hundert Menschen (AFP)
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Gut elf Jahre nach dem verheerenden Nato-Luftangriff in Kundus ergeht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein möglicherweise brisantes Urteil: Am Dienstag geben die Straßburger Richter ihre Entscheidung im Verfahren des Afghanen Abdul Hanan gegen Deutschland bekannt. Hanan hatte bei dem vom Bundeswehr-Oberst Georg Klein angeordneten Luftangriff zwei Söhne verloren. Deutschland wirft er einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor. „Deutschland muss endlich für den Kundus-Luftangriff die Verantwortung übernehmen“, erklärte Hanan wenige Tage vor dem Urteil. „Ich erwarte Gerechtigkeit - nicht nur für mich, sondern für viele andere Familien.“ Hanan hatte seine Klage beim EGMR im Jahr 2016 gemeinsam mit der in Berlin ansässigen Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) eingereicht. Die Kläger argumentieren, dass Deutschland gegen Artikel zwei (Schutz des Lebens) und Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen habe.

Aus Sicht der Kläger hat Deutschland nicht ausreichend zu den Umständen des Luftangriffs in Kundus ermittelt. Sie kritisieren zudem, dass Hanan keine Gelegenheit bekommen habe, Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Bundesanwaltschaft einzulegen, die Ermittlungen gegen Oberst Klein einzustellen.

Mehr als hundert Todesopfer nach Angriff Bei dem von Klein veranlassten Nato-Luftangriff am 4. September 2009 wurden etwa hundert Menschen getötet, darunter Hanans zwölfjähriger Sohn Abdul Bayan und dessen achtjähriger Bruder Nesarullah. Hintergrund des Luftangriffs war die Kaperung zweier Tanklaster durch Taliban-Kämpfer nahe dem deutschen Feldlager. Klein befürchtete, dass die Tanklaster als rollende Bomben gegen das Feldlager eingesetzt werden könnten. Auf Anforderung der Bundeswehr griffen US-Kampfflugzeuge die Tanklaster an. In deren Umkreis hielten sich jedoch zahlreiche Zivilisten auf.

Der Luftangriff führte zu einer Regierungskrise in Berlin. Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) trat Ende 2009 von seinem neuen Amt als Arbeitsminister zurück. Ihm wurde die Vertuschung brisanter Informationen vorgeworfen.

Bei einer Anhörung vor dem EGMR vor knapp einem Jahr hatte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Almut Wittling-Vogel, Verständnis für das „tiefe Leid“ Hanans geäußert. Die Bundesregierung berief sich in der Anhörung allerdings darauf, dass der Angriff in Kundus nicht unter deutscher Jurisdiktion erfolgte, da er im Namen der Vereinten Nationen ausgeführt worden sei. Hanans Anwalt wiederum argumentierte, dass es „eine Reihe verbindlicher Anweisungen“ Kleins für den Luftangriff gegeben habe, die ohne jede UN-Kontrolle erfolgt seien.

Keine Entschädigung – dafür 5000 Dollar „humanitäre Hilfsleistung“

Sollte der EGMR Hanan Recht geben, könnte er dem Familienvater eine Entschädigung von 30.000 Euro zusprechen. Hanan und weitere Hinterbliebene waren zuvor mit Entschädigungsklagen vor deutschen Gerichten gescheitert. Die Bundesregierung hatte den betroffenen Familien nach eigenen Angaben aber eine „humanitäre Hilfsleistung“ in Höhe von je 5000 Dollar gezahlt. Im Dezember hatte das Bundesverfassungsgericht ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bestätigt, wonach den Hinterbliebenen keine Entschädigungen zustehen. Zwar stellte das Bundesverfassungsgericht - anders als der BGH - klar, dass Amtshaftungsansprüche als Folge von Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht generell ausgeschlossen seien. Allerdings sei nicht jede Tötung von Zivilisten im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersetzung ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Im Falle des Luftangriffs von Kundus habe es zwar nicht ausgeschlossen werden können, dass sich im Umfeld des Bombenabwurfs auch Zivilisten aufhalten, urteilten die Karlsruher Richter. Klein habe aber alle ihm verfügbaren Erkenntnisquellen ausgeschöpft, bevor er den Angriff veranlasste.

AFP