Anschlag von Hanau: Gedenkstunde zum zweiten Jahrestag geplant (dpa)
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Über den rassistischen Terroranschlag in der hessischen Stadt Hanau vom 19. Februar 2020 zu schreiben, ist für mich nach wie vor eine Herausforderung. Es geht dabei um einen wilden Mix aus Gefühlen und Gedanken. Doch erste Dinge zuerst: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov starben, weil der legal bewaffnete deutsche Täter Tobias R. sie in seinen Wahnvorstellungen als Feinde des deutschen Volkes und seiner selbst ansah. Auch starben diese neun Menschen, weil es die Umstände dem Täter ermöglichten, seine wirklichkeits- und menschenfeindlichen Fantasien umzusetzen. Nach dem Massaker flüchtete der Mörder nach Hause, tötete seine zweiundsiebzigjährige pflegebedürftige Mutter und schließlich sich selbst.

Der Blick auf die Lebensgeschichten der Opfer des rassistischen Terroranschlages von Hanau zeigt, dass diese so vielfältig sind, wie es die Lebenswirklichkeit der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft ist. So symbolisiert diese Mordtat für mich, welchen potenziellen wie elementaren Gefahren Menschen ausgesetzt sind, denen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ein vermeintlich einheitlicher Ausländerstatus zugeschrieben wird. Als BPoC gehörten sie und gehören weitere Millionen Menschen in Deutschland zu einer tatsächlich gefährdeten Minderheit an, egal, welchen Pass sie besitzen. Diese Gefahren beginnen mit der alltäglichen Infragestellung (post-)migrantischen Lebens hierzulande, äußern sich wiederholt in der institutionellen Ungleichbehandlung von BPoC durch den bundesdeutschen Rechtsstaat und kulminieren immer wieder in grauenvollen Gewaltverbrechen von sogenannten Einzeltätern. Dies ist die letzte Konsequenz aus der realitätsfernen Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland.

Insbesondere das Vorgehen von Sicherheits- und Ermittlungsbehörden in Hanau wirkt wie eine Bestätigung dieser Wahrnehmung. Auch wenn die entsprechenden staatsanwaltlichen Verfahren eingestellt wurden, bleiben viele Fragen offen – nicht nur aus Sicht der Angehörigen der Mordopfer. Diese Fragen betreffen das soziale und familiäre Umfeld des Täters. Auch noch nach dem Verbrechen bemühte sich beispielsweise der Vater des Täters, diesen öffentlich als Opfer darzustellen. Es geht um den Umstand, dass der Täter legal Waffen besitzen konnte, obwohl er den Justizbehörden gegenüber mehrfach auffällig geworden war. Auch geht es beispielsweise um die zumindest anfänglich unprofessionelle bis fahrlässige Reaktion der Hanauer Polizei auf eingegangene Notrufe in der Tatnacht und auch im Umgang mit den Angehörigen der Tatopfer. In diesen Kontext gehört aber der wiederholt von Angehörigen geschilderte Eindruck, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und verantwortliche Politiker:innen mehr an einem zügigen Abschluss der Ermittlungen als an einer zweifelsfreien Aufklärung der komplexen Tatumstände interessiert waren.

Es steht zu erwarten, dass am diesjährigen Jahrestag des rassistischen Terroranschlags in Hanau kein Mangel an wohlmeinenden und auch wohlfeilen Bekundungen der Anteilnahme in der bundesdeutschen Öffentlichkeit herrschen wird. Diese Statements stehen aber in einem scharfen Kontrast zu den politischen, juristischen und gesellschaftlichen Konsequenzen, die nach dieser Schreckenstat in die Wege geleitet wurden. Der womöglich geistesgestörte Einzeltäter scheint die ideale Antwort auf die Frage zu liefern, was getan werden muss, um eine Wiederholung zu verhindern. Die Antwort lautet: Rückkehr zur Normalität. Diese Antwort ist für jene Menschen in Deutschland plausibel, die sich ohnehin nicht von rassistischer Gewalt bedroht fühlen, und es ist ganz sicher für Verantwortungsträger:innen sehr bequem, die ohnehin meinen, da Rassismus qua Verfassung nicht erlaubt ist, gäbe es solche gesellschaftlichen Verhältnisse auch nicht. Es ist jene Normalität, in der das rassistische Pamphlet von Sarrazin zum meistverkauften „Sachbuch“ im Nachkriegsdeutschland aufstieg. Es ist jene Normalität, auf die sich Terroristen wie Breivik und der rassistische Mehrfachmörder von Hanau berufen, wenn sie ihre Taten vorab rechtfertigen.

Aber für die Menschen, für die aus alltäglicher Erfahrung oder auch aus persönlicher Anteilnahme Rassismus kein Ausnahmeereignis darstellt, repräsentiert die rassistische Mordtat von Hanau und der sich anschließend einstellende Beschwichtigungsmodus der bundesrepublikanischen Institutionen den brennenden und verzehrenden Alpdruck einer dauerhaften Gefährdung hierzulande. Wie also sollten und können Migrant:innen, deren Kinder und Enkel darauf reagieren? Ist Flucht eine vernünftige Option? Bestehen die Gründe nicht mehr, die sie/uns oder deren/unsere Eltern oder auch deren/unsere Großeltern veranlasst haben, nach Deutschland zu kommen und hier zu leben, nicht mehr? Und vor allem: Wäre eine „Rückkehr“ – wohin auch immer – nicht genau das, was die rassistischen Terroristen wie der Mörder von Hanau mit ihren Verbrechen letztlich erreichen wollen?

Nicht nur hierzulande würde es Chauvinist:innen und Rassist:innen sicher gefallen, wäre ein Exodus der BPoC aus Deutschland die Folge solcher Verbrechen. Auswanderung oder Flucht waren und sind sehr persönliche, sehr menschliche Entscheidungen. Sich dafür oder auch dagegen zu entscheiden, ist weder heroisch noch das simple Gegenteil. So oder so darf aber nicht zugelassen werden, dass Menschen für ihre Zukunftsentscheidung mit dem Leben bezahlen. Auch deshalb sind die Ausdauer und der Mut derjenigen Menschen aus Hanau so bewundernswert, die seit dem rassistischen Terroranschlag vom 19. Februar 2020 nicht müde werden, die deutsche Mehrheitsgesellschaft an dieses Verbrechen zu erinnern, das doch in deren Namen begangen wurde. Also folgen wir dem Beispiel der Initiativen aus Hanau und nennen die Namen der Opfer dieses Verbrechens: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

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