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Der Genozid von Bosnien ist allgegenwärtig. Auch nach einem Vierteljahrhundert werden noch Opfer begraben. Während Überlebende weiter für Gerechtigkeit kämpfen, wird der Völkermord von den Verantwortlichen weiterhin verharmlost oder ganz geleugnet.

Die Kleinstadt Srebrenica im Osten Bosniens wurde im April 1993 von den Vereinten Nationen zur Schutzzone erklärt. Tausende von meist muslimischen Flüchtlingen suchten dort Zuflucht. Im Juli 1995 überrannte die bosnisch-serbische Armee der sogenannten „Republika Srpska“ (VRS), geführt von Kriegsverbrecher Ratko Mladić, die Enklave. Die Zivilbevölkerung wurde gequält, gejagt und getötet. Der Terror resultierte im Massaker an mehr als 8.000 bosnischen Muslimen. Dieser Völkermord ging als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Geschichte ein.

Srebrenica ist auch Sinnbild des Versagens der internationalen Gemeinschaft. Die dort stationierten 370 niederländischen UNPROFOR Soldaten verhinderten das Massaker nicht. Ihnen wird Mitschuld vorgeworfen. Videoaufnahmen zeigen den niederländischen Bataillonskommandeur Thomas Karremans beim Trinken mit dem Kriegsverbrecher Mladić. Als die Niederländer die Stadt wenige Tage nach dem Massaker verließen, überreichte Mladić Karremans Geschenke.

Obwohl dem Massaker vier Jahre Krieg vorausgingen, die von brutaler ethnischer Säuberung, Konzentrationslagern, Vergewaltigungen, Folter und Hunger geprägt waren, taten sich sowohl die Europäische Gemeinschaft als auch die Vereinten Nationen schwer einzugreifen. Sie schauten zu. Dass Srebrenica überhaupt einen Platz – wenn auch einen marginalen – in westlichen Erinnerungskulturen hat, hängt wahrscheinlich nicht nur mit der Grausamkeit des Verbrechens, sondern auch mit der eigenen Mitschuld zusammen. Zum zehnjährigen Gedenktag für die Opfer räumte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan ein, dass die Vereinten Nationen schwerwiegende Beurteilungsfehler begangen haben. Deswegen würde die Tragödie von Srebrenica die Geschichte der UN für immer verfolgen.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag urteilte, dass das Massaker einen Völkermord darstellt. Doch trotz der guten Dokumentation der Verbrechen, sehen sich die Opfer weiterhin mit Leugnung, Verharmlosung und Ignoranz konfrontiert.

Vor allem die Kontinuität der ultranationalistischen Politik der 1990er auf dem Balkan trägt zu einer Atmosphäre bei, in der Verharmlosung Zuspruch findet, gerade in Serbien und der „Republika Srpska“.

Aleksander Vučić, der einst einer rechtsradikalen Partei angehörte und später Informationsminister des Milošević-Regimes war, ist heute serbischer Staatspräsident. In den Neunzigern verfolgte er die großserbische Ideologie. Wenige Tage nach der Tragödie von Srebrenica drohte er damit, für jeden getöteten Serbenhundert Muslimezu töten. Auch heutzutage bezeichnet er Milošević noch als „großen Führer.“

Vučić stellt nicht in Frage, dass es in Srebrenica zu schweren Verbrechen kam, lehnt das Wort „Völkermord“ jedoch ab. Auch Serbiens Premierministerin Ana Brnabić hat den Völkermord wiederholt verharmlost. In einem Interview mit DW im Jahr 2018 sprach sie von einem „schrecklichen Verbrechen“, das jedoch keinen Völkermord darstelle. Da das Verbrechen in Srebrenica nicht im Namen des serbischen Volkes begangen worden sei, können Serben nicht kollektiv schuldig sein, so Brnabić.

Natürlich sind Generalisierungen, die Serben als kollektive Täter darstellen, inakzeptabel. Dass Brnabić selbst jedoch eine Generalisierung aller Serben aufwirft, zeugt von einer gefährlichen Ideologie, in der der Begriff „Völkermord“ eher als Verletzung der nationalistischen Ehre anstatt als legale Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen wird. Für Brnabić steht das Selbstbild des serbischen Ultranationalismus, dessen Ideologie zum Völkermord beitrug, an erster Stelle.

Zum Jahrestag des Genozids im letzten Jahr mahnte Brnabić, dass es in der Region keine Besserung geben werde, wenn die Menschen weiterhin dieselben „Missverständnisse“ und „Meinungsverschiedenheiten“ erwähnen würden.

Srebrenica ist aber weder ein Missverständnis, noch eine Meinungsverschiedenheit.

Abgesehen von dieser Leugnung des Völkermords, stellt sich die Frage, wie Überlebende überhaupt in die Zukunft schauen sollen, wenn sie keine Gerechtigkeit erfahren haben und wenn ihre Gegenwart von Beleidigungen wie denen von Brnabić geprägt ist.

Doch Verschwörungstheorien und alternative Fakten sind nicht nur in Serbien und der Republika Srpska normalisiert.

Das wohl aktuellste Beispiel der internationalen Akzeptanz der Leugnung des Genozids ist die Verleihung des Literaturnobelpreises an den österreichischen SchriftstellerPeter Handke.

Zahlreiche Wissenschaftler, Schriftsteller, Historiker und Journalisten kritisierten das Nobelkomitee für seinen Entschluss, mit Handke einen Unterstützer des Milošević-Regimes und Verfechter des serbischen Ultranationalismus mit diesem prestigereichen Preis auszuzeichnen.

Handkes zahlreiche Worte und Taten in Bezug zum ehemaligen Jugoslawien sind gut dokumentiert. So traf er sich 1996 mit Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und hielt ein Jahrzehnt später auf der Beerdigung Miloševićs eine Rede. In den 90ern behauptete er, bosnische Muslime hätten ein Massaker in Sarajevo vorgetäuscht, um Serben zu beschuldigen. Handke wünschte sich manchmal, ein orthodoxer Mönch zu sein, der für die serbische Souveränität im Kosovo kämpft. Als er im Jahr 2014 einen Literaturpreis in Norwegen erhielt, sagte er Überlebenden des Völkermords, die gegen ihn protestierten, sie sollen „zur Hölle fahren.“

Und doch ist Srebrenica kein isoliertes Massaker, sondern grässlicher Höhepunkt einer jahrelang andauernden, sehr gut dokumentierten, genozidalen ethnischen Säuberung. Der singuläre Charakter des Völkermordes von Srebrenica hat dazu beigetragen, dass dem bosnischen Genozid wenigstens einige Tage im Juli internationale Aufmerksamkeit geschenkt wird. Der Krieg war geprägt von zahlreichen weiteren Massakern, die es seltener auf die Titelseiten schaffen. Die anhaltende Leugnung und Verharmlosung tragen weiterhin zu den Traumata der Überlebenden bei.

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