Ukraine-Krieg: Protest im russischen Staatsfernsehen (AFP)
Folgen

Der russische Einmarsch in die Ukraine, der am 24. Februar begann, rückte Blut, Tränen und Schmerz eines Krieges erneut in den Mittelpunkt der Weltagenda. Und so zeugen Bilder eines zornigen und aufbrausenden russischen Präsidenten Wladimir Putin und der Bombardierungen, die letztendlich Tausende von Menschen töteten bzw. ganze Städte in Schutt und Asche legen, von der Ohnmacht Europas. Obwohl die von den USA verhängten Sanktionen und die Maßnahmen zur Isolierung Russlands vom Westen die Front erweitern und wohl langfristig Wirkung entfalten könnten, verdeutlichen die momentanen Verluste der Ukraine eine greifbare bittere Realität.

Die in der Geschichte immer wieder bemühte Floskel wonach „die Wahrheit zuerst in Kriegen getötet wird“, findet auch im Russland-Ukraine-Krieg erneut Verwendung. So zeigt sich in der Berichterstattung, dass sich die Meldungen Russlands oftmals zu hundert Prozent von den Meldungen der Ukraine unterscheiden. So gab beispielsweise die Ukraine bekannt, in den ersten 4 Tagen des Krieges seien 4.000 russische Soldaten getötet worden, wohingegen Russland erklärte, noch keine Verluste erlitten zu haben. Und während die Ukraine erklärt, Russland bombardiere zivile Siedlungen und töte Frauen und Kinder, propagiert Russland das Gegenteil und verkündet, nur militärische Ziele angegriffen zu haben. Wiederum ist es die russische staatliche Nachrichtenagentur Sputnik, die Inhalte verbreitet, wonach russische Soldaten von der Öffentlichkeit in der Ukraine willkommen geheißen werden, wohingegen ukrainische Social-Media-Konten Inhalte verbreiten, die zeigen, dass die Bevölkerung großen Widerstand gegen die Russen leistet.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass auch der Propagandakampf zwischen den Parteien eskaliert ist und Medien eine der Fronten in den Kriegen zwischen den Ländern sind. Wie bei konventionellen Kriegen bilden auch in der neuen Generation von Hybrid- bzw. Cyber-Kriegen Medien ein Feld der Auseinandersetzung und haben das Potential, maßgeblich zur Marginalisierung bzw. Definition des Gegners beizutragen, indem sie allen voran machtvolle Bilder produzieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Russland im Laufe der kriegerischen Auseinandersetzung seine Anstrengungen intensiviert hat, bestimmte Inhalte in den Vordergrund treten zu lassen. Diese Inhalte werden durch die eigenen Medien verbreitet, und es wird versucht, sowohl nach innen als auch nach außen eine Wahrnehmung zugunsten Russlands zu erzeugen.

Das „Neonazi“-Narrativ

Der Kriegsverlauf nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar zeigt, dass er sich nicht so vollzieht wie von Wladimir Putin wohl erwartet. Experten zufolge ging Putin davon aus, dass die Invasion in wenigen Tagen abgeschlossen und die gesetzten Ziele erreicht werden würden.

Der Widerstand der ukrainischen Regierung und Bevölkerung veränderte sowohl die öffentliche Wahrnehmung der Welt als auch den gesamten Diskurs. Wie groß die aktuellen Probleme für Russland sind, verdeutlichen neue Ansätze und Argumentationen, die sich insbesondere in den öffentlichen Stellungnahmen Russlands abzeichnen.

Es ist offensichtlich, dass jetzt auch von Russland, wie zuvor bei der US-Besatzung des Irak oder Afghanistans, der Versuch unternommen wird, mit falschen und verzerrten Anschuldigungen eine Rechtfertigung für die eigene Politik zu schaffen. So lässt sich bei genauer Betrachtung überdies feststellen, dass Begrifflichkeiten, die zu Anfang nicht im Umlauf waren, nunmehr verstärkt verwendet werden. In diesem Sinne sind die häufigsten Anschuldigungen und Inhalte, die auf russischer Seite fallen, Schlagworte wie „Neonazis“, „Atomwaffen“, oder Narrative von der „Verletzung des Völkerrechts durch die Ukraine“ oder dem drohenden Angriff mit „chemischen oder biologischen Waffen aus Forschungslabors der Ukraine“. Dabei zielt die übermäßige Verwendung des Begriffs „Nazis“ bzw. Neonazis durch fast jeden russischen Regierungsvertreter darauf ab, von der schlechten Implikation dieser Begriffe in der Welt zu profitieren. Auf dieser Basis versucht Russland deutlich zu machen, dass es gegenwärtig gegen Nazis kämpft. Selbstverständlich ist dieses Argument keine Debatte wert, denn es werden nicht Nazis bekämpft, sondern ein Volk, das sich vor den Augen der Welt einer Besatzung widersetzt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Argumente, die zunehmend von russischen Medien und russischen Vertretern bemüht werden, in der westlichen öffentlichen Meinung Wirkung zeigen und für einen Meinungsumschwung zugunsten Russlands sorgen, ist ziemlich gering. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, dass Russland mit seinem Beschuss ukrainischer Städte nicht zwischen Zivilisten und Soldaten unterscheidet und damit eine große humanitäre Tragödie ausgelöst hat. Tausende von Zivilisten haben ihr Leben verloren, Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen und viele Städte wurden bereits zerstört. Angesichts dieser erdrückenden Bilder haben die Behauptungen der Russen keine Aussicht auf Erfolg.

Auch das Sündenregister des Westens ist lang

Der zweite Grund liegt darin, dass man im Westen über mindestens genauso alte und tiefe eigene Erfahrungen mit solchen Rechtfertigungen verfügt wie die Russen. Mit der Verbreitung der Nutzung von Massenmedien wurden diese vom Westen als Werkzeug für Unterdrückung genutzt, um den „Anderen“, also „Barbaren und Rückständige“, zu beherrschen, bzw. auch als Mechanismus, um selbige „zu zivilisieren und zu zähmen“. In diesem Sinne ist das Sündenregister der westlichen Propagandamaschinerie ziemlich lang.

Obwohl man viele Studien zu diesem Thema bemühen kann, reicht es aus, einen Blick auf Edward Saids Buch „Orientalismus“ zu werfen. Heute wissen wir aus den Eingeständnissen, dass etwa die damals erhobene Behauptung der USA, wonach der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügt hätte, gelogen war. Über Jahre hinweg bildete der Ansatz der „Bürde des weißen Mannes als Beschützer der Unterdrückten für die Sicherung der Demokratie in der Welt“ das Hauptargument der westlichen Propaganda, und in der Folge fielen Millionen von Menschen und ganze Städte den der Propaganda folgenden Militäroperationen zum Opfer.

Eines der bekanntesten Beispiele für diese Art der Propaganda ist das Bild eines ölverschmutzten Meeresvogels, das vor dem Angriff auf den Irak in Umlauf gebracht wurde und von dem wir heute wissen, dass es in Wirklichkeit aus dem Golf von Mexiko stammte und eben nicht aus dem Irak. Aber die Propaganda mit dem Kormoran entfaltete die gewünschte Wirkung. Als die Öffentlichkeit erfuhr, dass es sich um ein Lügenmärchen gehandelt hatte, war der Irak fast vollständig zerstört.

Antitürkische Propaganda

Westliche Medien und politische Akteure versuchen mit ähnlichen Mechanismen die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um Maßnahmen der Türkei im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zu verhindern. Beispielsweise werden die militärischen Operationen gegen die terroristische Organisation PKK, als solche eine Bedrohung für ihre territoriale Integrität, im Westen oft als „Operation gegen Kurden“ dargestellt. Ebenso wird der Begriff „Freiheitskämpfer“ in westlichen Medien häufig für Mitglieder der Terrororganisation PKK verwendet, die auf brutalste Weise Ziele in der Türkei angegriffen haben. Trotz der überwältigenden Ablehnung durch die kurdische Bevölkerung in der Türkei wird die Terrororganisation PKK zum „Vertreter der Kurden“ stilisiert.

Um den Druck auf die Türkei sowohl in der US-amerikanischen als auch in der europäischen öffentlichen Meinung zu erhöhen, wurden zwischen 2014 und 2018 über lange Zeit Falschmeldungen der Art, dass die Türkei „mit dem Daesh kooperieren würde“, verbreitet. Diese Lüge wurde wiederholt bemüht, obwohl die Türkei die wirksamste Militäroperation gegen den Daesh vor Ort betrieben hatte.

Als weiteres Feld der antitürkischen Propaganda wird die Auseinandersetzung mit dem terroristischen FETO-Netzwerk angesehen. Obwohl dieses Netzwerk am 15. Juli 2016 in der Türkei einen Militärputsch gegen die legitim gewählte Regierung unternahm, wurden für den FETO-Rädelsführer Zuschreibungen wie „Prediger im Exil“ und „Opfer der Regierung“ verwendet.

Diese Beispiele lassen sich beliebig ausweiten. Aber das ist gar nicht notwendig, denn das Verhalten der westlichen Welt, Wahrnehmungen zu schaffen, um mit dem erzeugten öffentlichen Druck Ergebnisse zu erzielen, die den eigenen Interessen dienen, ist ziemlich alt, und es lassen sich dafür viele weitere Beispiele anführen. Daher hat die Methode, die jetzt Russland gegenüber dem Westen anwendet, keine Chance, bei den Empfängern dieser Botschaften Wirkung zu erzielen.

Infolgedessen ist es sehr unwahrscheinlich, dass die zeitlich und inhaltlich sehr durchschaubaren Konzepte, die Russland nun zu Propagandazwecken anwendet, Glaubwürdigkeit und damit eine Wirkung auf die globale öffentliche Meinung entfalten können. Dieses Propagandaverständnis, das Anwendung findet, um einen gesellschaftlichen Diskurs zu dominieren, ist im Laufe der Zeit erodiert und entfaltet im globalen Sinne eine Überzeugungskraft, die für Russland nahezu bei Null liegt.

Dennoch offenbart der russisch-ukrainische Krieg, dass die Praxis, durch das Produzieren von Nachrichten und Narrativen der Gegenseite Überzeugungen aufzuzwingen, immer noch ihre Gültigkeit behält. Unwillkürlich fragt man sich, ob Russland nicht klar ist, wie plump und primitiv der implementierte Propagandastil ist, und ob die westlichen Länder ihren Ansatz, fiktive Wahrnehmungen von Ländern und Gesellschaften zu erzeugen, aufgeben werden. Es ist schwer, darauf mit Ja zu antworten, obwohl man sich wünschen würde, dass es so wäre.

Die Grenzen des Propagandakriegs zwischen Russland und dem Westen sind offenbar noch nicht erreicht. Die gegenseitigen Maßnahmen im Bereich der konventionellen Massenmedien und auch der digitalen Sphäre zeigen, dass die Propagandafront auch im Medienkontext ziemlich breit ist. Der Verlierer dieses Propagandakriegs steht allerdings jetzt schon fest, und es sollte nicht vergessen werden, dass diese Auseinandersetzung wohl noch lange andauern wird.

Meinungsbeiträge geben die Ansichten des jeweiligen Autors und nicht die der Redaktion wieder. Für Anfragen wenden Sie sich bitte an: meinung@trtdeutsch.com