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Macrons Außenpolitik

Emmanuel Macrons Außenpolitik wird von seinen Kritikern zuweilen als aggressiv und erratisch angesehen. Seine Verbündeten betrachten das Verhältnis als „schwierig“. Bewertungen seiner Militärinterventionen in Mali und Libyen fallen eher negativ aus. Metaphern wie der „Hirntod“ der NATO oder die Verwendung von Schlüsselbegriffen wie „Europäische Souveränität“ oder „Strategische Autonomie“ werden als kontraproduktiv zurückgewiesen oder gar als „toxisch“ für die Reformdebatte angesehen. Auch die Initiative für eine Neuausrichtung der EU-Beziehungen zu Russland stieß auf Verwunderung bis hin zu massiven Widerstand unter den NATO-Partnern.
Genug, um ein Jahr vor der französischen Präsidentschaftswahl nach Erklärungen zu suchen.

Eine Vision und ein Schraubenzieher

Im Januar 2017 hielt der Präsidentschaftskandidat Macron seine Europarede an der Berliner Humboldt-Universität, wo bereits diverse einflussreiche Politiker ihre Vorstellungen von der Zukunft der EU ausgeführt hatten. Darin identifiziert er die zentralen Herausforderungen für die Staaten Europas, zieht seine Schlüsse und unterfüttert seine Vision von Europa mit konkreten, praktischen Reformvorschlägen für die EU und ihre Politiken. Er greift den Satz von Jacques Delors auf, es brauche nicht nur eine Vision, sondern einen Schraubenzieher. Im September sendet er direkt vor der Bundestagswahl noch einmal eine To-do-Liste für eine EU-Reform nach Berlin. Macron braucht für seine Ziele eine handlungsfähigere EU und dafür die Unterstützung Deutschlands. Er will „ein souveränes Europa“ schaffen, das seine äußere und innere Sicherheit gewährleisten kann, Klimawandel, Digitalisierung und Migration bewältigt, die Währungsunion reformiert und Demokratie stärkt.

Berlin lässt ihn hängen

Statt einer prompten und unterstützenden Antwort passiert nichts. Berlin ist ungewöhnlich lange mit der Koalitionsbildung beschäftigt. Dann antwortet Merkels designierte Nachfolgerin in ihrer neuen Rolle als CDU-Parteivorsitzende, nicht die Kanzlerin selbst. Das ist schon in der Form ein Affront. Aber auch Ton und Inhalt sind eine Enttäuschung für Paris. Die deutsch-französische Zusammenarbeit funktioniert danach von Fall zu Fall. Im Pandemiejahr 2020 gelingt mit dem Vorschlag eines Wiederaufbaufonds ein beeindruckender Beweis für Handlungsfähigkeit und Solidarität in der EU. EU-Reformimpulse bleiben aber weiter aus. Macron agiert unilateral, düpiert Deutschland außenpolitisch und wählt Formulierungen, die es seinen Diplomaten schwer machen zu vermitteln, was ihr Präsident gemeint hat. Um das deutsch-französische Verhältnis zu verstehen, schauen Medien gerne auf die persönliche Beziehung zwischen Kanzler und Präsident. Bedeutender sind aber strukturelle Unterschiede und Interessenlagen.

Deutsche und französische Eigenheiten

In ihren vier Amtszeiten hat sich Angela Merkel den Ruf einer besonnenen Krisenmanagerin und Chefmoderatorin erworben. Gelegenheiten dafür gab es reichlich. Nach eigener Aussage fährt sie in Krisen „auf Sicht“, was angesichts des permanenten Krisenmodus der vergangenen zwei Jahrzehnte der Normalzustand ist. Für strategisches Denken oder eine Vision für Europa ist in diesem Politikstil wenig Raum. Durchregieren ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Macht ist föderal verteilt. Deutschland sieht sich als Zivilmacht, bekennt sich zu Multilateralismus – in Europa und in der Welt – und zu westlichen Werten, für deren Verteidigung die NATO gegründet worden war. Entsprechend groß war der Schock, als US-Präsident Trump das Bündnis als obsolet und die EU als Feind bezeichnete. Merkel erklärte, dass sich Europa mehr um sich selbst kümmern muss, und beließ es dabei. Keine deutsche Regierung strebte je nach der Rolle des Hegemons in Europa. Thatchers und Mitterrands Sorge vor einer Dominanz des wiedervereinigten Deutschlands spiegelt sich in der öffentlichen Meinung wider. Deutsche Führerschaft ist nicht populär und wird als teuer empfunden. Entsprechend wird die Bundesregierung häufiger dafür kritisiert, dass sie nicht genug tue. In Fällen von Entschlossenheit reichte es aber auch nicht, um Mehrheiten für eine europäische Lösung zu finden. Nationale Alleingänge wie in der Migrationskrise 2015, nach Fukushima 2011 in der Energiepolitik und aktuell bei Northstream 2 provozieren Widerspruch und zerstören Vertrauen.

Frankreich unterscheidet sich hiervon aufgrund seiner Geschichte, seines präsidentiellen Systems und seines weltpolitischen Selbstbilds. Es ist atomare Militärmacht mit Sitz im UN-Sicherheitsrat. Der Präsident denkt strategisch und geopolitisch. Macron hätte kein Problem mit einer Führungsrolle in der EU, als deren Kern er die deutsch-französische Versöhnung ansieht. Jedoch haben sich die Gewichte zuungunsten Frankreichs verschoben. Das Verhältnis zu USA und NATO war immer distanzierter im Vergleich zur klaren Westbindung Deutschlands. In einer zunehmend multipolaren Weltordnung führt das zu anderen Schlüssen für die Neuausrichtung französischer und EU-Außen- und Sicherheitspolitik als in Berlin.

Frankreich und Russland

Das gilt auch für die Neuausrichtung der Russlandpolitik. Eine pro-russische Haltung hat in Frankreich Tradition und findet Wählerunterstützung. De Gaulle und Mitterrand pflegten ein wohlwollendes Russlandbild. Gleiches gilt aktuell für die extreme Linke und nationalistische Rechte in Frankreich. Nach dem Beginn der Sanktionen gegen Russland infolge der Krim-Annexion erlebte Macron als Wirtschaftsminister den hohen ökonomischen Schaden für sein Land. Die verlorenen Marktanteile Frankreichs in Russland übernahm China.
Für Macron ist die Ukraine die offene Wunde Europas mit gewaltigen sicherheitspolitischen und finanziellen Schäden für alle Beteiligten. Ohne eine Lösung wird es schwieriger für Europa, sich weltpolitisch gegenüber einem aufstrebenden China, einem mit sich beschäftigten Amerika und einem veränderten Kräfteverhältnis der Regionalmächte im Mittleren Osten zu behaupten.

Wahlen in Deutschland und Frankreich

War Macron 2017 mit seiner Bewegung angetreten, das ganze französische Volk zu vertreten und sich über das Rechts-Links-Schema zu stellen, so positioniert er sich im Vorfeld der Wahl 2022 liberal-konservativ. Dort werden Wahlen gewonnen. Seine Neupositionierung erlaubt es ihm, künftig weniger Rücksicht auf extreme Positionen nehmen zu müssen, die ihn zum Teil zu seinen Militäraktionen drängten.
Gerade hat die EU-weite Debatte zur Zukunft Europas begonnen, mit Bürgerbeteiligung à la française und Inhalten, die viel von Macrons „Vision und Schraubenzieher“ aufgreifen. Ergebnisse sollen im Frühjahr 2022 vorliegen, pünktlich vor dem Wahltermin. Merkel überlässt die Reform der EU der nächsten Bundesregierung. Wer diese führt, steht in den Sternen. Ein(e) Nachfolger(in) wird eine Weile brauchen, um außen- und europapolitisches Profil zu gewinnen, es sich aber nicht leisten können, wegen mangelnder Unterstützung für Macron eine Präsidentin Le Pen mitzuverantworten.

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