09.06.2022, Ukraine, Donezk: Ein ukrainischer Panzer fährt in der Region Donezk im Osten der Ukraine. (dpa)
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Mit Beginn der Kampfhandlungen am 24. Februar 2022 erhoffte sich Russland einen schnellen Sieg. Ziel war nicht die Übernahme der Ukraine, sondern Folgendes: Die USA sollten ihre Finger von der russischen Einflusszone lassen, Moskau wollte die Eroberung des Donbass durch die Ukraine verhindern. Innerhalb weniger Tage gelang es, den Flughafen Gostomel in der Nähe von Kiew zu erreichen. Doch nach etwa einem Monat wurde klar, dass ein schneller Sieg zwar möglich war, allerdings hohe Verluste bedeuten würde.

Verlorene Chance auf Frieden?

Das Scheitern des Istanbul-Prozesses bedeutet wahrscheinlich das Ende der diplomatischen Lösung. Seit April verliert die Ukraine jeden Tag über immer mehr Gebiete die Kontrolle. Die russischen Streitkräfte haben das Territorium der Oblast Lugansk zu 100 Prozent unter Kontrolle gebracht und stehen nach der Einnahme von Mariupol kurz vor der „Befreiung der Donezker Volksrepublik (DVR)“, wie das russische Verteidigungsministerium verkündete. Die Oblast Cherson und Teile der Oblast Saporoschje sind bereits unter russischer Kontrolle. Die Ukraine hat ihren offenen Zugang zum Meer fast vollkommen verloren. Die russischen Generäle haben sich das Ziel gesetzt, einen Korridor nach Transnistrien zu schaffen. Das offizielle Moskau sagt im Klartext, dass eine Einigung mit jedem Tag schwieriger wird.

EU und die USA versetzen der Diplomatie einen schweren Schlag. Sie beliefern die Ukraine weiterhin mit schweren Waffen: Panzer, Mehrfachraketenwerfer-Systeme (MLRS), Panzerabwehrlenkraketen und Haubitzen. Selbst das zurückhaltendste Land in der EU bleibt nicht außen vor: Deutschland hat der Ukraine Flugabwehrkanonenpanzer Gepard und MLRS Mars II geliefert. Die EU verspricht 9 Mrd. €, die USA 40 Mrd. $. Um ihre Unterstützung für die Ukraine unter Beweis zu stellen, haben die Staats- und Regierungschefs des Vereinigten Königreichs, Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der EU in den vergangenen Monaten Kiew besucht.

„Zweites Afghanistan“ als Ziel der NATO

Die NATO-Staaten zeigen mit Nachdruck, dass sie nicht die Absicht haben, Russland in der Ukraine Zugeständnisse zu machen. Das ideale Ziel für das Nordatlantische Bündnis ist ein langwieriger Krieg. Am 14. Juli erklärte der Präsident des führenden NATO-Lands USA, Joseph Biden, bei einem Besuch in Israel, Washingtons Ziel sei das strategische Scheitern der Moskauer Sonderoperation in der Ukraine. Die Notwendigkeit, Russland zu besiegen, wurde auch von der britischen Außenministerin Liz Truss angesprochen.

Das Dilemma der Ukraine-Krise besteht darin, dass Russland keinen schnellen Sieg erringen kann und die USA kein "zweites Afghanistan" schaffen können. Der Grund des langsamen Vorankommens der russischen Operation ist, dass Russland nicht vorhat, einen umfassenden Krieg zu entfesseln, keine Mobilmachung ausruft und keine Flächenbombardements durchführt – Methoden, welche die USA im Irak und in Afghanistan eingesetzt haben. Den NATO-Verbündeten ist es trotz der Lieferung von Waffen und Geld an die Ukraine nicht gelungen, dafür zu sorgen, dass sich Russland in der Ukraine festfährt. Die militärischen Erfolge Russlands kommen zwar nicht so schnell, dafür aber beständig. In der US-amerikanischen Expertengemeinschaft wie auch in der Führung wächst die Ansicht: Wenn Russland im Donbass die Hauptstreitkräfte der Ukraine besiegt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch der Rest des Lands erobert wird.

Einzelne Persönlichkeiten im Westen, etwa Henry Kissinger und Gerhard Schröder, versuchen einen Kompromiss zu erreichen. Ihre Glaubwürdigkeit reicht jedoch nicht aus, um die Regierungen ihrer Länder zu beeinflussen, die mit Rückendeckung der USA und der NATO handeln. Der unabhängigste Akteur in diesem Prozess ist Türkiye. Erdoğan unterstützt keine der beiden Konfliktparteien. Der Pressesprecher Erdogans İbrahim Kalın verurteilte zwar offiziell die russische Sonderoperation, räumte aber auch die Fehler des Westens ein und nannte die Expansion der NATO in den letzten 30 Jahren als Ursache des Konflikts. Ankara kann zwar keinen Frieden garantieren, tut aber sein Bestes dafür. Das Getreideabkommen Ende Juli zwischen UNO, Russland, Ukraine und Türkiye war hingegen ein diplomatischer Sieg für Erdoğan. Er hat gezeigt, dass durch Kommunikation mit Putin ein besseres Ergebnis für die Ukraine und die Sicherheit in der Welt erzielt werden kann als durch den Versuch, ihn zu isolieren.

Mangelnder Respekt gegenüber geopolitischen Interessen

Hätten Washington und Brüssel den Vorschlägen des russischen Außenministeriums in Bezug auf Sicherheitsgarantien und dem neutralen Status der Ukraine zugestimmt, hätte der Konflikt vermieden werden können. Nun leiden nicht nur die Ukraine und Russland, sondern auch Europa. Die Eurozone und Deutschland haben seit der Einführung des Euro eine Rekordinflation zu verzeichnen. Alles – Strom, Lebensmittel, Benzin – wird teurer. Europa könnte schon in diesem Winter ohne Heizwärme dastehen. Die Versuche, schnellen Ersatz für russisches Gas zu finden, sind bisher gescheitert, und die Panik während der Abschaltung von Nord Stream 1 hat dies bestätigt.

Ein Ende des Ukraine-Konflikts ist nur möglich, wenn der Westen zum Dialog bereit ist. Dieser Dialog muss jedoch die Bereitschaft zur Aufhebung der Sanktionen voraussetzen. In jedem Szenario wird die Welt jedoch den Verlust der ukrainischen Gebiete hinnehmen müssen, sofern Russland nicht kollabiert. Dies ist die Realität, die der große Geopolitiker Kissinger Scholz und Macron zu vermitteln versuchte. Auch Cherson und Saporoschje wird es wohl kaum abtreten. Ob der Westen bereit ist, einen solchen Frieden zu schließen, um das Wohlergehen seiner Bürger zu sichern und die Gefahr eines direkten Zusammenstoßes zwischen der NATO und Russland zu vermeiden, ist unklar. Aber je länger er darüber nachdenkt, desto schwieriger wird es, zu verhandeln.

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