Schuscha zur Hauptstadt der aserbaidschanischen Kultur erklärt (AA)
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„Madschlis“ bedeutet herkunftsmäßig „Ort des Sitzens“. Dieser ursprüngliche Wortsinn verrät noch nichts über die Art der gemeinten „Sitzung“. Diese kann ebenso gut eine Versammlung oder Besprechung über ernsthafte Dinge sein wie eine Party.

In Aserbaidschan entwickelte das Wort „Madschlis“ seine wohl wichtigste Bedeutung im frühen 19. Jahrhundert, nachdem die Gegend von Russland erobert worden war. Durch die Ankunft der Russen wurde die aserbaidschanische Kultur nachhaltig transformiert, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Unter anderem traten lokale Sprachen gegenüber dem Russischen in den Hintergrund, und die alten muslimischen Herrschaftsformen wurden durch „ewige Untertanenschaft unter das Allrussische Imperium“ ersetzt. So heißt es etwa im Kürektschai-Vertrag, mit dem sich das Khanat Karabach 1805 Russland unterwarf. Zugleich brachten die Russen eine Kultur mit in den Kaukasus, die für sie selbst in vielfacher Hinsicht neu und fremd war, nämlich die von der Industriellen Revolution, dem Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution geprägte moderne westliche Zivilisation.

Kulturelle Transformation unter russischer Herrschaft

So richtig in die Tiefe ging diese kulturelle Transformation Aserbaidschans erst ab den späten 1820er-Jahren, als die russische Eroberung militärisch zunächst weitgehend abgeschlossen war.

Die Auswirkungen des Kulturwandels lassen sich gut am Beispiel Dschäfärgulu Khans (1787-1866) studieren, eines Angehörigen des letzten Herrscherhauses von Karabach. Seine Versuche, in der Übergangszeit zwischen der Unterwerfung des Khanats Karabach (1805) und dessen formaler Auflösung (1822) den Rang des Khans (Herrschers) auszuüben, scheiterten. Dies lag wohl auch daran, das Dschäfärgulu, vorsichtig formuliert, eine eher flexible Auffassung von Loyalität hatte. Russland verbannte ihn 1823 nach Simbirsk, später nach St. Petersburg, doch jeweils mit einigermaßen großzügigen Apanagen, wohl, um ihn als politisches Faustpfand bei der Stange zu halten. 1829 durfte Dschäfärgulu in seine Heimat, die ehemalige Khanatshauptstadt Schuscha, zurückkehren.

Jeglicher Aussicht auf politische Bedeutung beraubt, doch mit beträchtlichen Geldmitteln ausgestattet, wandte sich Dschäfärgulu fortan verstärkt den vergnüglichen Seiten des Lebens zu. Und dazu gehörten eben auch regelmäßig abgehaltene „Madschlis“. Zu diesen soll Dschäfärgulu in bestimmten Perioden ungefähr 30 bis 40 Gäste täglich eingeladen haben. Zumindest in der ersten Periode nach Dschäfärgulus Rückkehr nach Schuscha scheint unklar gewesen zu sein, ob auf diesen Madschlis wesentlich mehr außer Speis und Trank geboten wurde. Doch führten Dschäfärgulus Bekanntschaft mit führenden Dichtern und Intellektuellen seiner Zeit sowie auch seine eigene enorme Bildung schon bald dazu, dass sie sich rasch zu veritablen literarischen und kulturellen Salons entwickelten.

Im Laufe der folgenden Jahrzehnte etablierten sich ähnliche von literarischen und anderen künstlerischen Beiträgen getragene Madschlis nicht nur in Schuscha, sondern im gesamten russisch gewordenen Aserbaidschan. Sie wurden zu festen Institutionen des muslimisch-aserbaidschanischen Kulturlebens. Mehrere bedeutende Persönlichkeiten oder auch Menschen, die es werden wollten, richteten ihre eigenen Madschlis ein.

Deutschland und die Kultur der literarischen Madschlis

Aus deutscher Sicht am interessantesten dürfte in diesem Kontext der Madschlis des aus Gändschä stammenden aserbaidschanischen Pädagogen, Kalligraphen und Dichters Mirza Schaffy Wazeh (1794-1852) sein. Dieser literarische Zirkel trug den anspruchsvollen Namen „Diwan der Weisheit“ (aserbaidschanisch: Divani-hikmät). An dieser Stelle muss man wissen, dass in orientalischen Sprachen das Wort „Diwan“ nicht nur eine Sammlung von Gedichten (wie in Goethes „West-östlichem Divan“) bezeichnen kann, sondern auch eine Versammlung von Menschen mit dem Zweck der Besprechung (mehr oder weniger) wichtiger Angelegenheiten. Dann kann „Diwan“ praktisch ein Synonym von „Madschlis“ sein.

Mirza Schaffy Wazeh wurde in den 1840er Jahren in Tiflis von dem aus dem Königreich Hannover stammenden Dichter und Übersetzer Friedrich Martin von Bodenstedt (1819-1892) besucht. Die beiden wurden Freunde. Bodenstedt brachte nach seiner Rückkehr in die Heimat 1851 die „Lieder des Mirza Schaffy“ heraus, die er zunächst als Übersetzungen von Gedichten Mirza Schaffy Wazehs ausgab. Später musste er diese Behauptung unter dem Druck investigativ recherchierender Orientalisten jedoch zurücknehmen. Dessen ungeachtet erlebten die „Lieder des Mirza Schaffy“ weit mehr als 100 Auflagen und waren wahrscheinlich das erfolgreichste Werk der deutschen Orientmode in der Zeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Schuscha – Hauptort der aserbaidschanischen Madschlis-Kultur

Für Aserbaidschan selbst wurden jedoch andere Madschlis wichtiger als der von Mirza Schaffy Wazeh. Unter ihnen nehmen der „Madschlis des geselligen Beisammenseins“ (aserbaidschanisch: Mädschlisi-üns) von Churschidbanu Natävan (1832–1897) sowie der „Madschlis der Vergessenen“ (aserbaidschanisch: Mädschlisi-Färamuschan) von Mir Möhsün Nävvab (1833 bis 1918) eine Sonderstellung ein. Diese beiden literarischen Zirkel waren vermutlich die einflussreichsten literarischen Madschlis im russischen Aserbaidschan überhaupt. Dass sie beide, wie auch die gesellig-kulturreichen Versammlungen im Hause Dschäfärgulus, in Schuscha stattfanden, illustriert die immense Bedeutung dieser Stadt und ganz Karabachs für die aserbaidschanische Kulturgeschichte, die vielleicht mit der Rolle Weimars in Deutschlands Kulturentwicklung zu vergleichen ist. Dadurch wird auch klar, dass hinter der knapp dreißig Jahre währenden Besatzung und systematisch betriebenen Verstümmelung Schuschas auch der wahnwitzige Versuch stand, das aserbaidschanische Kulturerbe Karabachs auszulöschen.

Churschidbanu Natävan entstammte derselben Herrschaftsdynastie wie Dschäfärgulu. Ihr Vater Mehdigulu – der bis zu seiner Ermordung durch russische Einheiten 1806 als Khan geherrscht hatte – war zugleich ein Onkel Dschäfärgulus. Wie dieser steckte Churschidbanu große Teile ihres Reichtums in das Mäzenatentum und Werke der öffentlichen Wohlfahrt, darunter ihr berühmtes Wasserleitungssystem. Ihr 1872 eröffneter Mädschlisi-üns traf sich in ihrem zweistöckigen Schuschaer Stadtpalast und wurde rasch zur wohl bedeutendsten literarischen und mindestens einer der wichtigsten kulturellen Einrichtungen in der Stadt. In seiner Blütezeit soll der Madschlis um die 30 Mitglieder gehabt haben, allesamt führende Repräsentanten der Karabacher Kulturszene. Abgesehen vom Vortrag von Texten und Gedichten waren musikalische Darbietungen fester Bestandteil des Programms.

Im Unterschied zu Churschidbanu Natävan war Mir Möhsün Nävvab weder herrscherlicher noch sonst aristokratischer Herkunft, stellt aber aufgrund seiner ungeheuren, Bildung, Kreativität und Vielseitigkeit eine kulturgeschichtlich hochinteressante Persönlichkeit dar. Unter anderem war er Dichter, Literaturwissenschaftler, Musikologe und Historiker. Nävvabs „Madschlis der Vergessenen“ wurde im selben Jahr gegründet wie Natävans prestigereicher Salon, was kein Zufall gewesen sein dürfte. Nävvab wählte den selbstironischen Namen seines Madschlis vermutlich mit einem gewissen Augenzwinkern im Hinblick auf den in unvergleichlich luxuriöserem Ambiente stattfindenden Zirkel Churschidbanus. Allerdings dürfte keine wirklich polemische Absicht dahinter gesteckt haben, zumal die Khanstochter Nävvabs Literaturzirkel finanziell bezuschusste. Dass Konkurrenz zwischen den Madschlis wie auch zwischen den in ihnen auftretenden Dichterinnen und Dichtern keineswegs ein Phantasieprodukt ist, zeigt ein Vorfall um den Dichter Abdullah Bey (ca. 1840–1874). Dieser machte sich bei einem Besuch in Mir Möhsün Nävvabs Literaturkreis einmal in recht frecher Weise öffentlich über Churschidbanu lustig. Seinen Dichternamen Asi „Rebell“ hatte er offenbar nicht zufällig gewählt.

Niedergang der Madschliskultur

Neben den bereits erwähnten Madschlis gab es noch andere in weiteren Teilen Nordaserbaidschans, darunter in Baku, Schamachi und Länkäran. Doch die Blütezeit der Madschlis endete kurz vor der Jahrhundertwende. Im Falle Churschidbanus trugen dazu finanzielle Schwierigkeiten bei, in die sie unter anderem aufgrund von Erbstreitigkeiten geriet. Letzten Endes kann man in diesen Zänkereien wohl auch eine entfernte Einwirkung Russlands erkennen, das konsequent darauf hingearbeitet hatte, die alten aristokratischen Eliten Aserbaidschans nicht nur politisch kaltzustellen, sondern auch finanziell auszutrocknen beziehungsweise ihren Besitz zu zerstreuen. 1891 veranstaltete Churschidbanu ihren „Madschlis des geselligen Beisammenseins“ zum letzten Mal.

Doch auch in anderer Hinsicht war die große Zeit der literarischen Madschlis zu dieser Zeit schon abgelaufen. Neue Medien wie das Grammophon, die sich auch in aserbaidschanischer Sprache entwickelnde Presse sowie Bücher dürften den traditionellen literarischen Zusammenkünften den Rang abgelaufen haben.

Was bleibt

Was vom literarischen Madschlis bleibt, ist neben den erhalten gebliebenen Werken auch eine lebendige Tradition des Zitierens und Diskutierens von Literatur in geselliger Runde, die man auch heute noch vielerorts in Aserbaidschan genießen kann.