Mikrobiologe Timo Ulrichs im TRT-Deutsch-Interview. (TRT Deutsch)
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von Ali Özkök & Burcu Karaaslan Der Mikrobiologe und Infektionsepidemiologe Prof. Dr. Timo Ulrichs, der unter anderem ab 2006 als zuständiger Referent für den Seuchenschutz und die Influenza-Pandemieplanung für das Bundesministerium für Gesundheit tätig war, hat mit TRT Deutsch über die Corona-Situation in Deutschland gesprochen.

Ulrichs warnt dabei vor Nachlässigkeit bei der Vorsorge gegen das Coronavirus und dessen Varianten, zudem geht er davon aus, dass eine vierte Welle in der kalten Jahreszeit klassische Rezepte wie die AHA-Regeln wieder erforderlich machen werde.

Gleichzeitig sei durch die bisherige Impfkampagne aber auch schon ein gewisses Schutzniveau vorhanden, das es rechtfertige, zumindest für Geimpfte bestehende Restriktionen aufzuheben. Um gegen die Lambda-Variante und andere Mutationen gerüstet zu sein, müsse es auch in ärmeren Ländern eine bessere Impfabdeckung geben.

Sehr geehrter Herr Ulrichs, das RKI geht in seinem jüngsten Strategiepapier zwar von einer Grundimmunität infolge der fortgeschrittenen Impfkampagne aus, eine Herdenimmunität hält es jedoch bis auf Weiteres für illusorisch. Womit müssen wir mit Blick auf die bevorstehende kalte Jahreszeit rechnen?

In der Tat haben wir noch nicht genug geimpft, um wirklich schon sicher sein zu können, dass wir die eigene Immunität auch wirklich erreichen. Das hängt damit zusammen, dass eben leider die Nachfrage nach den Impfungen etwas nachgelassen hat. Und jetzt stehen wir vor dem Dilemma, dass wir auf der einen Seite zwar schon einen gewissen Impfschutz haben für die Risikogruppen und die Älteren, aber auf der anderen Seite noch nicht ausreichend, um das Virus so stark einzudämmen durch die Impfungen, dass andere nicht mehr davon infiziert werden könnten.

Deswegen müssen wir auch erst mit einer vierten Welle rechnen. Und die wird kommen, die ist ja schon im Anlauf sozusagen. Und das bedeutet, dass wir zusätzlich zu der Impfkampagne eben auch noch mal auf die klassischen Virus-Eindämmungsmaßnahmen zurückgreifen müssen, also Abstand halten, weiterhin die Maske tragen und gute Hygiene-Konzepte, vor allen Dingen für die Schulen und Kitas, denn viele Schülerinnen und Schüler können ja noch nicht geimpft werden.

Die Corona-Schutzimpfung hat sich als hochwirksam gegen die Urform des Coronavirus erwiesen, verhindert bei Varianten immerhin schwere und tödliche Verläufe, soll aber beispielsweise gegen ganz neue Formen wie die Lambda-Variante wenig ausrichten können. Besteht die Gefahr, dass die Virenentwicklung der Impfstoffentwicklung davonläuft? Ja, das wäre theoretisch denkbar. Vor allen Dingen dann, wenn wir in vielen Weltregionen das Virus weiterhin in großen Mengen zirkulieren lassen. Dann ist einfach das Risiko da, die Wahrscheinlichkeit gar, dass sich weitere Varianten bilden. Und dann können diese neuen Varianten auch so aussehen, dass unsere jetzt zugelassenen Impfstoffe nicht mehr richtig wirken. Und das wollen wir verhindern. Deswegen ist es auch in unserem Interesse hier in Europa, dass wir möglichst schnell auch den Impfstoff, also die Impfstoffe zur Verfügung stellen für die armen Länder, damit dort auch das Virus keine Möglichkeiten hat, sich noch groß auszubreiten. Zurzeit aber ist es so, dass die ältere Variante diejenige ist, die uns am meisten Sorge bereitet. Aber auch die wird von den vorhandenen Impfstoffen immer noch sehr gut abgedeckt, wenn man sich zweimal impfen lässt. Zwar haben die Corona-Impfstoffe im Wesentlichen gehalten, was die Studienergebnisse versprochen haben, und die Bedenken von Impfgegnern haben sich nicht bewahrheitet. Dennoch sind die Impfungen von zumindest kurzfristig teilweise deutlich spürbaren Reaktionen gekennzeichnet, die viele Erwachsene ihren minderjährigen Kindern gerne ersparen würden. Für wie dringlich und vor allem für wie verhältnismäßig halten Sie es, auch Kinder zu impfen? Das ist immer noch eine offene Frage, weil das Risiko-Nutzen-Verhältnis bei Kindern noch mal ganz neu überdacht werden muss. Denn Kinder haben einfach ein viel geringeres Risiko, einen schweren Verlauf von Covid-19 zu entwickeln. Andererseits ist es aber so, dass diese vorübergehend leichten Nebenwirkungen, die auch zum Teil schon mal ganz schön heftig sein können, bestehen. Aber sie sind vorübergehend. Also sie klingen dann wieder ab, sodass man das durchaus mal mitmachen kann, um dann mit dem Impfen auf der sicheren Seite zu sein. Und da kann man schon sagen, dass man sich überlegen kann, eben auch in die jüngeren Jahrgänge zu gehen. Andere Länder machen es ja schon vor, und wir warten jetzt aber eben noch auf die generelle Empfehlung durch die Ständige Impfkommission.

In Bezug auf das Impfen von Kindern: Was ist denn Ihre persönliche Meinung diesbezüglich? Wir haben drei Kinder, davon sind zwei älter als zwölf. Und da haben wir uns in der Familie überlegt, dass wir durchaus jetzt schon zu den Impfungen gehen. Also damit dann jetzt auch mit beginnendem Schulhalbjahr die Kinder geimpft sind. Und wir erwarten jetzt nicht, dass die STIKO die Empfehlungen für alle aussprechen wird. Es ist in der Tat eine Abwägung, aber ganz klar, man tut es eben auch, um andere, also zum Beispiel die Kleineren, die jünger als 12 sind, auch noch mit zu schützen. Deswegen ist das also schon eine Überlegung wert. Reisen, Partys oder Großveranstaltungen scheinen ein anhaltender Risikofaktor zu bleiben, was die Bildung von Corona-Clustern und Verbreitung von Varianten anbelangt. Gleichzeitig erscheinen Restriktionen in diesem Bereich nicht mehr als zumutbar oder politisch durchsetzbar. Wird Corona am Ende eine Frage der Eigenverantwortung werden? Und wie kann und sollte die Politik perspektivisch agieren, um den gesamtgesellschaftlichen Schaden zu minimieren? Also auf jeden Fall sollte die Bundesregierung und sollten die Regierungen der Länder in Deutschland nicht so reagieren wie in Großbritannien, wo der Staat sich ja sozusagen aus der Verantwortung verabschiedet hat, und das jedem Einzelnen überlassen hat. So weit sind wir noch nicht. Deswegen ist es sinnvoll, hier die allgemeinen Maßnahmen zwischen Bund und Ländern noch weiterhin aufrecht zu erhalten. Wir sollten aber eben noch genau abwägen, und außer den Neuinfiziertenzahlen auch noch die generelle epidemiologische Lage unabhängig davon im Auge behalten. Und das bedeutet, dass wir jetzt nicht mehr so viele schwere Covid-19-Verläufe sehen werden wegen der Impfungen, die ja schon weit fortgeschritten sind, und wir erst mal eben auch etwas mehr Freiheiten zulassen können für vollständig Geimpfte. Da sind einige Settings jetzt gerade in der Versuchsphase. Also beispielsweise, dass man wieder Diskotheken und Clubs aufmacht und dann sieht man zu, wie die verschiedenen Sicherheitsmaßnahmen sind und wie man damit zurechtkommt. Das kann gut laufen, also ist es nicht mehr so das Risiko da wie ganz am Anfang der Pandemie, wo das Virus wirklich auf komplett immun-naive Menschen getroffen ist. Denn wir haben jetzt schon eine gewisse Sicherheit durch das Impfen und das kann sich noch weiter fortsetzen, sodass man hier jetzt ganz klar sagen kann: Wer geimpft ist, der sollte diese ganzen Freiheiten wieder zurückbekommen. Es gibt gar keinen Grundbedarf für weitere Einschränkung. Vielen Dank für das Gespräch!

TRT Deutsch