Symbolbild: Artefakt aus der Altbabylonischen Ära in einem Museum in Basra, Irak.  (Reuters)
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Eine 3700 Jahre alte Tontafel im Archäologischen Museum von Istanbul enthüllt neue Erkenntnisse zur Geschichte der Geometrie. Die Tafel offenbarte sich als das früheste bekannte Beispiel für angewandte Geometrie. Die Schlussfolgerung aus der Entdeckung lautet, dass der mathematische Zweig der Trigonometrie bereits lange Zeit vor der Publikation der Erkenntnisse des Pythagoras in der abendländischen Welt bekannt war.

Einzig bekanntes Beispiel für Katasterdokument in Altbabylonischer Ära

Verantwortlich für die Entdeckung ist der Mathematiker Dr. Daniel Mansfield von der University of South Wales in Sydney. In einer am Mittwoch in der Zeitschrift „Foundations of Science“ veröffentlichten Forschungsarbeit erklärte der Wissenschaftler, dass das 3700 Jahre alte Artefakt zur Messung von Landgrenzen verwendet wurde. Die Tafel enthält demnach rechtliche und geometrische Angaben zu einem Feld, das aufgeteilt wurde, nachdem ein Teil davon verkauft worden war.

Zu der bahnbrechenden Entdeckung erklärte der Forscher: „Manchmal verstecken sich die erstaunlichsten Entdeckungen im Verborgenen. Es ist eine Entdeckung, die unsere Sichtweise auf die Geschichte der Mathematik völlig verändern wird.“

Die Tafel ist derzeit auch das einzige bekannte Beispiel eines Katasterdokuments aus der Altbabylonischen Ära von 1900 bis 1600 v. Chr., erklärte Mansfield weiter.

Tafel wurde 1894 bei Expedition nahe Bagdad gefunden

Die Tafel mit der Bezeichnung Si.427 wurde in Istanbul aufbewahrt, nachdem sie 1894 bei einer Expedition in Sippar, einer alten babylonischen Stadt in der heutigen irakischen Provinz Bagdad, gefunden worden war. Aus den Aufzeichnungen ging hervor, dass sie anschließend an das Kaiserliche Museum von Konstantinopel ging, das heute allerdings nicht mehr existiert.

Nach monatelangem Bemühen um eine Kopie der Tafel erkannte Mansfield schließlich die Bedeutung des Artefakts: Es verriet, wie man damals die Vermessung und Berechnung des Landes vornahm. Das Sensationelle an der Antwort: Die Berechnungen wurden mittels jener Vorgehensweise vorgenommen, die heute als das Pythagoreische Tripel bekannt ist.

Der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras gilt als Begründer des berühmten Lehrsatzes, wonach in einem rechtwinkeligen Dreieck die Summe der Kathetenquadrate dem Quadrat der Hypotenuse entspricht.

Plimpton 322 von Si.427 inspiriert

Dass bereits die alten Babylonier ähnliche Zusammenhänge erkannt hatten, beweise, so Mansfield, dass „die babylonischen Landvermesser über ein felsenfestes theoretisches Verständnis der Geometrie, der Rechtecke und der rechtwinkligen Dreiecke verfügten und es zur Lösung praktischer Probleme einsetzten“.

Dies sei bereits mehr als tausend Jahre vor dem Wirken von Pythagoras der Fall gewesen. Auf Si.427 seien Dreiecke mit den Seitenlängen 3, 4, 5 sowie 8, 15, 17 und 5, 12, 13 abgebildet.

Bereits 2017 hatten Mansfield und sein Forscherkollege Norman Wildberg eine babylonische Tafel entdeckt, die die bis dato älteste und genaueste bekannte trigonometrische Tabelle der Welt enthält. Die Forscher vermuteten bereits damals, dass die Tafel, die als „Plimpton 322“ bekannt ist, einen praktischen Zweck hatte, aber sie wussten nicht, wie genau sie verwendet wurde.

Babylonier entwickelten Verständnis von Privateigentum und Grenzen

Da Si.427 bisher bekannten Anhaltspunkten zufolge bereits vor Plimpton 322 existiert hatte, gehen die Forscher nun davon aus, dass die frühere Tafel die Hersteller der späteren inspiriert hatte. Es zeichnet sich mit immer größerer Wahrscheinlichkeit ab, dass auch Plimpton 322 zur Berechnung präziser Landgrenzen verwendet wurde.

Den mathematischen Ansatz der Babylonier charakterisiert Mansfield als einen einer „alternativen Proto-Trigonometrie“. Während die alten Griechen den Sternenhimmel als Ausgangspunkt für ihre Forschungen betrachteten, waren die Babylonier vor allem an der in der Praxis bedeutsamen Vermessung des Bodens interessiert.

Dies deutet jedoch auch darauf hin, dass die Babylonier zu dieser Zeit bereits ein Verständnis von Privateigentum und Grenzen hatten oder zu entwickeln begannen.

Tafel birgt noch ungelöste Geheimnisse

„Jetzt, da wir wissen, welches Problem die Babylonier lösten, wirft das eine neues Licht auf alle mathematischen Tafeln aus dieser Zeit“, erläutert Mansfield im Gespräch mit dem „Guardian“. „Man sieht, dass die Mathematik entwickelt wurde, um den Bedürfnissen der Zeit gerecht zu werden.“

Offen bleibt jedoch aus Sicht des Forschers weiterhin, welche Bewandtnis es mit der Sexagesimalzahl 25:29 habe, die auf der Rückseite der Tafel eingraviert wurde:

„Ist sie Teil einer Berechnung, die sie durchgeführt haben? Ist es ein Bereich, auf den ich noch nicht gestoßen bin? Ist es ein Maß für etwas? Es ist wirklich ärgerlich für mich, weil ich so viel von der Tafel verstehe. Ich habe es aufgegeben, herauszufinden, was das ist.“

TRT Deutsch