Symbolbild: Aufräumarbeiten nach einem Terroranschlag in Idlib  (AA)
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von Ömer Özkizilcik

Am 10. März wurde der türkische Soldat Osman Alp bei einem Terrorangriff von Al-Kaida in der nordsyrischen Provinz Idlib getötet, vier seiner Kameraden schwer verletzt. Sie gehörten zu den von der Türkei entsandten Streitkräften, die in der Region 3,1 Millionen Zivilisten gegen Angriffe des Assad-Regimes oder seiner Verbündeten aus Russland und dem Iran schützen sollen.

Seither hat sich die Zahl der Angriffe von Al-Kaida-Ablegern und Untergrund-Netzwerken auf türkische Militärbasen und Konvois in Idlib deutlich erhöht. Die meisten Angriffsbemühungen konnten von den türkischen Truppen vereitelt werden oder richteten keinen größeren Schaden an. In einigen Fällen konnten Verletzungs- oder Todesfälle unter türkischen Soldaten dennoch nicht verhindert werden.

Offiziell behauptet die Terrororganisation, sie würde ihren Fokus auf den „entfernten Feind“ legen, als den sie die USA definiert. Welchen Grund hat sie aber angesichts dieser Darstellung, explizit türkische Soldaten ins Visier zu nehmen und was ist die Motivation dahinter?

Al-Kaida ändert Ton gegenüber Türkei

In den jüngsten Jahren haben zahlreiche Terrorgruppen die Türkei ins Visier genommen – sogenannte dschihadistische ebenso wie marxistische oder separatistische, von Daesh über PKK/YPG und DHKP-C bis hin zu MLKPD. Al-Kaida hat seit den Anschlägen von Istanbul im Jahr 2003 jedoch keinen Terroranschlag auf türkischem Boden verübt.

Seit der Trennung zwischen Al-Kaida und Daesh hatte sich Al-Kaida sogar von den Anschlägen der Konkurrenz in der Türkei distanziert, zumal diese eine muslimische Bevölkerung aufweise – ebenso wie Idlib, wo auch der frühere Al-Kaida-Ableger Al Nusra Front nach dem Vormarsch des syrischen Regimes und der Vertreibung des Daesh aus seinen Hochburgen einen Rückzugsort gefunden hat. Allerdings hat Al Nusra mittlerweile auch eine bedeutsame Transformation durchgemacht.

Die Vereinigung hat offiziell ihre Verbindungen zu Al-Kaida abgebrochen und sich mit einigen anderen bewaffneten Gruppen in Idlib zu einem neuen Dachverband, Hayat Tahrir al-Sham (HTS), zusammengeschlossen. In Idlib hatte HTS anschließend Gefechte mit der türkisch unterstützten syrischen Opposition ausgetragen und konnte über einige Gebiete der Provinz die Kontrolle übernehmen.

Interne Kämpfe in HTS-Miliz

Innerhalb der Führung von HTS gab es allerdings auch einen harten Kern, der mit dem Bruch mit Al-Kaida nicht einverstanden war. Dieser hatte in weiterer Folge die Formation Hurras al-Din ins Leben gerufen. Deren Verhältnis zu HTS ist seither ambivalent. HTS hat jedoch dazu beigetragen, den militärischen Ambitionen von Hurras enge Grenzen zu setzen.

Zu Beginn des Jahres 2020 unterstützte Russland eine Militäroffensive des Assad-Regimes, die das Leben von 3,1 Millionen Zivilisten und die Zukunft der legitimen syrischen Opposition gleichermaßen gefährdete. Das türkische Eingreifen verhinderte ein Blutbad und schon im März 2020 unterzeichneten Russland und die Türkei ein neues Waffenstillstandsabkommen für Idlib.

Die Folge der Vereinbarung war, dass die türkische Militärpräsenz erheblich wuchs und die türkischen Streitkräfte am Ende des Tages die größte und stärkste Militärmacht in Idlib stellte. Diese neue Stärke erlaubte es der Türkei, selbst Einfluss auf die interne Dynamik in der Provinz zu nehmen und die Balance zwischen den bewaffneten Gruppen zu moderieren. Sie tat dies und stärkte die Ankara gegenüber loyale syrische Opposition sowie die pragmatischen Kräfte innerhalb der HTC – zum Nachteil der Dogmatiker. Die Folge war, dass Hurras al-Din die bewaffnete Entscheidung suchte und HTS die Herausforderung annahm.

Sektierer bleiben klein, aber gefährlich

Mit Erfolg: Die Al-Kaida-Anhänger verloren die Schlacht und sahen sich zur Auflösung gezwungen. Am Ende war aus dem Machtgleichgewicht aus drei bewaffneten Mächten in Idlib eines aus nur noch zwei geworden – Bedeutung haben nur noch die protürkische Opposition und HTS. Von den früheren Hurras-Kämpfern haben 35 bis 45 Prozent ihre Waffen niedergelegt oder haben sich von Al-Kaida getrennt. Der Rest sah sich gezwungen, in Idlib in den Untergrund zu gehen oder seine Strategie zu verändern.

Derzeit gibt es noch einige Untergrund-Netzwerke von Al-Kaida in Idlib. Ihre Möglichkeiten und Ressourcen sind deutlich geschrumpft. Eine der verbliebenen Gruppierungen ist die Ansar Abu Bakr al-Siddiq Schwadron, eine frühere Eliteeinheit von Hurras al-Din. Sie soll über 20 bis 100 aktive Kämpfer und einen Nachrichtendienst von 100 bis 400 Personen verfügen. Ihre Aktivitäten spielen sich im Verborgenen ab.

Von dieser Schwadron gingen bis dato bereits eine Reihe von Angriffen gegen türkische Soldaten in Idlib aus. In offiziellen Erklärungen bezeichnet die Gruppe die türkischen Streitkräfte als „türkische NATO-Armee“. Sie beschwert sich darüber, dass es die Türkei – aus ihrer Sicht ein säkularer Staat, der von Apostaten regiert werde – ist, die den Schutz der 3,1 Millionen Zivilisten in der Provinz gewährleistet. Die Splittergruppe erklärt, die Türkei habe nur die Aufgabe, den „Dschihad“ unschädlich zu machen, und sie kooperiere mit den „kriminellen Russen“ und den „Feueranbetern“ aus dem Iran.

Türkei hat Al-Kaida das Narrativ genommen

Während die Türkei die einzige Macht ist, die ihr Militär nutzt, um unschuldige Zivilisten in Syrien zu beschützen, ist sie auch diejenige, die Al-Kaida am meisten Schaden zufügt. Die türkische Rolle in Syrien ist die, eine Antithese zu Al-Kaida zu verkörpern – die sich bislang stets gegenüber den traumatisierten Zivilisten als „Verteidigerin der Muslime“ zu verkaufen versucht hat.

Während die Türkei eine Lücke füllt, indem sie gefährdete Syrer schützt, die zuvor über Jahre hinweg von Al-Kaida ausgebeutet wurden, hat die Terrororganisation es von Tag zu Tag schwerer, neue Mitglieder zu rekrutieren. Deshalb ist sie auch stetig im Schrumpfen begriffen. Mittlerweile sind fast keine Syrer mehr in den Reihen der syrischen Al-Kaida zu finden, sondern fast nur noch zugereiste Kämpfer. Al-Kaida ist klar, dass sie Syrien dauerhaft verlieren wird, wenn dieser Zustand anhält.

Um diesem Prozess gegenzusteuern, konzentriert Al-Kaida ihre Ressourcen darauf, türkische Soldaten in Idlib anzugreifen. Zugleich verlässt sie sich darauf, dass Russland und der Iran, die auch Idlib wieder unter die Herrschaft des Machthabers Assad bringen wollen, ihren Druck auf die Türkei beibehalten und so deren Kosten für die Präsenz in Syrien in die Höhe treiben.

Erstarkt Al-Kaida in Syrien wieder, erstarkt sie weltweit wieder

Das Ziel ist es, die Türkei zum Rückzug aus Idlib zu zwingen und so eine neue russisch-iranische Offensive in Idlib zu ermöglichen. Al-Kaida könnte dann wieder das in einem solchen Fall absehbare humanitäre Desaster ausbeuten und das Narrativ eines „türkischen Verrats am syrischen Volk“ pflegen. Hätte Al-Kaida mit dieser Strategie Erfolg, würde die Terrorgruppe nicht nur in Syrien wiederaufleben, sondern sich auf Grundlage der gleichen Rhetorik in der gesamten muslimischen Welt wieder um Rückendeckung bemühen.

TRT Deutsch