Symbolbild: Die türkische Kampfdrohne Bayraktar TB2 auf einem Flugplatz. (AA)
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von Ömer Özkizilcik
Häufig ist es ein Agieren auf des Messers Schneide, und es gibt eine Reihe von ungeschriebenen Gesetzen. Dennoch haben es die Türkei und die Russische Föderation geschafft, trotz zum Teil erheblicher Meinungsunterschiede in Konfliktzonen ihre Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten.
Die Ansätze waren oft komplex: Gemeinsame Energieprojekte und der türkische Ankauf von S-400-Luftabwehrsystemen verhinderten, dass nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei 2015 die Beziehungen zusammenbrachen. Nun ist erneut eine Phase vermehrter unfreundlicher Äußerungen aus Russland angebrochen. Außenminister Sergej Lawrow riet seinem türkischen Kollegen mit Blick auf den Ukraine-Konflikt, die „Situation sorgfältig [zu] analysieren und das Bestärken militaristischer Gefühle in Kiew [zu] unterlassen“.
Bereits zuvor hatte Sprecherin Maria Sacharowa die Türkei für ihre Solidaritätserklärungen an das Turkvolk der Krimtataren kritisiert und gedroht, Russland könnte „seine Aufmerksamkeit auf ähnliche Probleme in der Türkei richten“, sollte sich an Ankaras Rhetorik nichts Wesentliches ändern.
Corona nur Ausrede für neuen Tourismusbann
Einen Vorgeschmack auf die neue Sprödigkeit Moskaus im Verhältnis zur Türkei gibt der De-facto-Tourismusbann, den Russland bis auf Weiteres verhängt hat. Zwar wird dieser offiziell mit der Zahl an Corona-Infektionen in der Türkei begründet, doch dass die Spannungen rund um die Ukraine diese Entscheidung nicht beeinflusst hätten, glaubt kaum jemand. Immerhin gab es eine ähnlich weitreichende Maßnahme zuletzt 2015 nach dem Grenzzwischenfall an der türkisch-syrischen Grenze. Der Tourismus, bei dem russische Gäste eine tragende Rolle spielen, macht 12 Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts aus.
Auf der anderen Seite bleibt die türkisch-russische Kooperation intakt, und auch Lawrow hatte jüngst gewürdigt, dass die Türkei trotz enormen Drucks in Sachen Ankauf der S-400 hart geblieben war. Als es 2016 zur Normalisierung der bilateralen Beziehungen zwischen Moskau und Ankara kam, sprachen einige nationalistische Kommentatoren und Analysten in Russland von einer „Unterwerfung der Türkei unter die Macht Russlands“.
Nun befürchten nicht selten dieselben Analysten, das „türkische Modell“ könne in militärischer Hinsicht Schule machen und die Ukraine inspirieren. Man befürchtet, Kiew könnte sich ein Beispiel am Erfolg Aserbaidschans bei der Befreiung weiter Teile von Bergkarabach nehmen und mithilfe von Bayraktar-Drohnen versuchen, prorussische Separatisten aus dem Donbass zu vertreiben.
Türkei musste ihre Probleme mit Russland im Alleingang lösen
Diese Bedenken zeigen, dass der Türkei etwas gelungen ist, was ihr Respekt in Russland einbringt, ohne sich auf die USA oder Westeuropa verlassen zu müssen: Sie hat den weiteren Vormarsch des von Russland unterstützten Assad-Regimes in Syrien aufgehalten, in Libyen den von Russland unterstützten Warlord Chalifa Haftar in die Schranken gewiesen, in Bergkarabach geholfen, die armenische Okkupation weitgehend zu beenden. So hat die Türkei auch Russland Grenzen aufgezeigt, ohne sich an Dritte zu wenden.
Im Gegenteil, diese waren sogar noch auf Distanz gegangen: Als die Türkei ein russisches Kampfflugzeug vom Himmel holte, das den türkischen Luftraum verletzt hatte, ließen die Nato-Partner das Land allein. Auch die Patriot-Abwehrsysteme, die sie in die Türkei geliefert hatten, damit diese vor möglichen Aggressionen von jenseits der syrischen Grenze geschützt wäre, zogen sie im Lauf der Zeit zurück – mit Ausnahme von Spanien.
Im Proxy-Showdown mit Russland in Syrien und Libyen stand die Türkei ebenfalls ohne Unterstützung da. Und wegen ihrer Mithilfe bei der Befreiung von Bergkarabach und der Wiederherstellung der territorialen Integrität Aserbaidschans musste sich die Türkei sogar Vorwürfe vonseiten der Verbündeten anhören.
Neuer Drohnentyp mit der Ukraine entwickelt
Die Türkei hat auf die harte Weise lernen müssen, dass sie sich bezüglich der Ausbalancierung Russlands nicht auf die Nato-Partner verlassen kann – und deshalb verließ sie sich auf Selcuk Bayraktar. Er ist das Gehirn hinter der Bayraktar-Drohne und wurde selbst zum Symbol einer gelungenen Einhegung Russlands durch die Türkei.
Es ist vor diesem Hintergrund auch kaum verwunderlich, dass Bayraktars Unternehmen Bayrak ein Joint Venture mit der Ukraine bildete und dieses „Schwarzmeerschild“ nannte. Die Kooperation mit der Ukraine ermöglichte es der Türkei sogar, die Akinci-Drohne zu produzieren, die sogar noch größere Qualitäten aufweist als die kampferfahrene TB2 Bayraktar.
Um die Balance mit Russland zu halten, schloss die Türkei auch eigenständig diplomatische Allianzen – von der Ukraine über Aserbaidschan, Libyen oder die legitime syrische Regierung bis hin zu weiteren Nationen in Osteuropa. Auch Länder wie Polen und Rumänien blicken mit großem Interesse auf das türkische Modell. Sie beginnen ebenfalls an der Entschlossenheit der Westeuropäer zu zweifeln, Russland in Schach zu halten – zumal Frankreich sich dem Kreml sichtlich angenähert hat.
Das Interesse am türkischen Modell weckt auch in anderen osteuropäischen Staaten den Wunsch, es Polen gleichzutun und Bayraktar-Drohnen in ihr militärisches Portfolio aufzunehmen – von Ungarn, Kasachstan und Rumänien bis hin zu den baltischen Staaten.
Türkei wird sich von Drohungen nicht beeindrucken lassen
Für Russland ist die heikle Diplomatie mit der Türkei funktional, und es liegt im Interesse des Kremls, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Dass osteuropäische Staaten, die Russland fürchten, am türkischen Modell Interesse entwickeln, ist jedoch auch für Moskau eine neue Erfahrung. Und Russland fürchtet sogar, dass diese Länder sich eigenständig wappnen werden wie die Türkei, ohne sich auf EU und USA zu verlassen.
Dass Russland nun Drohungen und Sanktionen gegen Ankara ausspricht, dürfte eine Reaktion auf die Exportfähigkeit des türkischen Modells sein. Die Türkei wird sich aber auch dieses Mal nicht beeindrucken lassen. Russland wird das erkennen und entweder eine nicht gewollte Konfrontation riskieren oder aber zu den ungeschriebenen Gesetzen des Pragmatismus in den wechselseitigen Beziehungen zurückkehren.
Die Türkei wird dazu zweifellos Möglichkeiten eröffnen, beispielsweise in Form neuer gemeinsamer Projekte. Möglicherweise wird am Ende auch die US-Regierung von Joe Biden begreifen, was sich im Osten Europas verändert und die Türkei ebenfalls als das betrachten, was die aus dem früheren Sowjetimperium befreiten Länder in ihr sehen.

TRT Deutsch