Aus Sicht der EU-Kommission hat sich aus dem EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Mai 2020 eine für die EU als Rechtsgemeinschaft gefährliche Dynamik entwickelt. In mehreren Ländern werde nun eine Grundsatzdebatte über den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht geführt, sagte EU-Justizkommissar Didier Reynders am Dienstag. Sollten in der Folge mehrere Mitgliedstaaten dieses Prinzip ernsthaft in Frage stellen, würde dies an den Grundfesten der EU rütteln.
EU-Kommission sieht sich über den nationalen Verfassungen
Das Bundesverfassungsgericht hatte im Mai 2020 das vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gebilligte Anleihekaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank (EZB) in Teilen als verfassungswidrig eingestuft. Nach Auffassung der Kommission kritisierten die Karlsruher Richter so ein EuGH-Urteil als Kompetenzüberschreitung und verstießen ihrerseits gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts. Im Juni 2021 leitete die Behörde deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein.
Das Bundesverfassungsgericht machte damals deutlich, dass auch staatliches Handeln auf europäischer Ebene der deutschen Verfassung genügen müsse und mahnte an, dass der Bundestag kontrollieren müsse, ob die Teilnahme der Deutschen Bundesbank an Vorhaben der EZB, die potenziell erhebliche Folgen für den deutschen Haushalt hätten, verhältnismäßig sei.
„Spillover-Effekt“ auf andere Mitgliedsstaaten
Doch die Entscheidung aus Karlsruhe habe auch einen „Spillover-Effekt“ auf andere Mitgliedstaaten gehabt, sagte Justizkommissar Reynders. In Rumänien müsse die Kommission nun eine Entscheidung prüfen, die das dortige Verfassungsgericht unter Berufung auf das deutsche EZB-Urteil getroffen habe. „Wir haben Bedenken, dass auch Ungarn sein Verfassungsgericht auf die gleiche Weise anrufen könnte.“
Im Streit der EU-Kommission mit Polen wegen einer Reihe von Justizreformen hat die Regierung in Warschau ebenfalls wiederholt auf das EZB-Urteil verwiesen. Einer Anordnung des EuGH zur Aussetzung einer umstrittenen Disziplinarkammer für polnische Richter ist Polen bislang nicht nachgekommen. Regierungschef Mateusz Morawiecki wies stattdessen das Verfassungsgericht an, zu prüfen, ob die Luxemburger EU-Richter nicht ihre Kompetenzen überschritten hätten.
„Ich habe deshalb einen Brief an die polnischen Behörden geschrieben“, sagte Reynders. Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova kündigte am Dienstag außerdem eine Frist für Polen bis zum 16. August an. Sollten die Anordnungen aus Luxemburg bis dahin nicht umgesetzt werden, werde Brüssel eine Geldstrafe beantragen.