Archivbild. 02.08.2021, Mecklenburg-Vorpommern, Rostock: Ein Schüler meldet sich in der ersten Unterrichtsstunde der Klasse 1b in einer Grundschule. / Photo: DPA (dpa)
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Bildungsforscher sehen wegen der schlechten Deutsch- und Mathematik-Kompetenzen vieler Viertklässler und angesichts eines relevanten Anteils von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten dringenden Handlungsbedarf. Die „alarmierenden Befunde“ entsprechender Studien müssten als Weckruf verstanden werden, schreiben die Wissenschaftler Felicitas Thiel und Michael Becker-Mrotzek in der Zusammenfassung zu einem wissenschaftlichen Gutachten für die Kultusministerkonferenz (KMK), das am Freitag in Berlin vorgestellt wurde.

Erstellt hat es die „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ (SWK), ein bei der KMK angesiedeltes Beratergremium aus 16 Bildungsforschern, die regelmäßig Expertisen und Empfehlungen für die Bildungspolitik in Deutschland erarbeiten.

Der Grundschule gelinge es in vielen Fällen nicht, grundlegende Kompetenzen an alle Kinder zu vermitteln, schreiben die SWK-Vorsitzenden Thiel und Becker-Mrotzek. Sie verweisen auf die Befunde des IQB-Bildungstrend und der Kindergesundheitsstudie (Kiggs) des Robert Koch-Instituts. Die Studien hatten gezeigt, dass etwa jeder fünfte Viertklässler Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erreicht und fast jedes vierte sieben- bis zehnjährige Kind ein erhöhtes Risiko für psychische Auffälligkeiten zeigt.

Das Grundschul-Thema gehört momentan neben dem Lehrkräftemangel zu den brennendsten Themen der Bildungspolitik, denn es drohen langfristige negative Effekte: Grundschüler, die beim Übergang auf die nächsthöhere Schule nicht richtig lesen, verstehen, rechnen und schreiben können, werden es auch auf dem weiteren Bildungsweg bis hin zum Abschluss schwerer haben und wahrscheinlich auch im Leben insgesamt. In Zeiten von Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel ist die Gesellschaft aber mehr denn je auf Nachwuchs mit guter Bildung und Ausbildung angewiesen.

Wissenschaftler sehen Verantwortung nicht nur bei den Grundschulen

Die Wissenschaftler schieben die Verantwortung nicht einfach auf die Grundschulen: Es müsse in Rechnung gestellt werden, dass sich die Rahmenbedingungen für Bildung in den Einrichtungen in den vergangenen Jahren deutlich verändert hätten, heißt es in dem Gutachten. Das gelte beispielsweise für den wachsenden Anteil an Kindern, deren Familiensprache nicht Deutsch sei. Das betrifft demnach jedes fünfte Kind in der Gruppe der Drei- bis Sechsjährigen. „Auch die Inklusion von Kindern mit besonderem Förderbedarf sowie die Integration neu zugewanderter Kinder stellen neue Anforderungen an Grundschullehrkräfte“, heißt es weiter.

Die Experten schlagen 20 Maßnahmen vor, um den Negativtrend bei den Mathematik- und Deutschkompetenzen der vergangenen Jahre umzukehren und der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten von Schülern entgegenzuwirken. Dazu gehören Maßnahmen bereits in der Kita:

- Stärkere Ausrichtung auf die Förderung sprachlicher, mathematischer und sozialer Kompetenzen in der Kita-Erzieher-Ausbildung und -Fortbildung, mindestens drei Fortbildungstage im Jahr pro Fachkraft, verbesserter Fachkraft-Kind-Schlüssel und mehr Zeit für pädagogische Arbeit, flächendeckende frühe Diagnostik im Alter von drei bis vier Jahren

- In der Grundschule (in der Regel vier Schuljahre) im Schnitt mindestens sechs Stunden Deutsch und fünf Stunden Mathematik pro Woche, mehrmals pro Schuljahr Überprüfung, ob Mindeststandards erreicht sind über „standardisierte Diagnoseverfahren“

- Einbau von Konzepten zur Förderung „sozial-emotionaler Kompetenzen“ ins Schulprogramm jeder Grundschule, Aufstellung und gemeinsame Umsetzung von schulischen Regeln, positives Einwirken von Kindern auf andere Kinder stärken („positive Peerkultur“)

- Kooperation zwischen Schule und Eltern durch regelmäßige und anlassunabhängige Kontakte zwischen Lehrkräften und Eltern verbessern, zudem verpflichtende halbjährliche Lern- und Entwicklungsgespräche mit Eltern zum Kompetenzstand ihrer Kinder mit Vereinbarung nächster Entwicklungsziele

- Mehr Gestaltungsspielraum und Zeit für Schulleitungen („Entlastungsstunden“) für die Personal- und Schulentwicklung, bei größeren Grundschulen auch Einrichtung von Assistenzstellen für die Schulleitung

- Grundschulen mit vielen Kindern aus sozial schlechter gestellten Familien besonders fördern, Zulagen und andere Anreize - wie gesundheitsfördernde Maßnahmen - für Lehrkräfte an diesen Schulen

Die Maßnahmen müssten dem Gutachten zufolge „in den kommenden Monaten und Jahren“ unternommen werden, damit Grundschüler in Deutschland die Grundkompetenzen erlangen und Mindeststandards sichergestellt werden. Die Wissenschaftler sehen aber auch die Grenzen: „Den Mitgliedern der SWK ist bewusst, dass die Umsetzung einiger Empfehlungen einen längeren Vorlauf benötigt und dass Empfehlungen, die zusätzliches Personal oder Entlastungsstunden betreffen, angesichts der dramatischen Unterversorgung des Gesamtsystems mit Lehrkräften derzeit nur schwer zu realisieren sind.“

dpa