19.02.2021, Hessen, Hanau: Ein Plakat „#say their names“ wird auf der Kundgebung zum Gedenken an den rassistischen Anschlag in Hanau hochgehalten. (dpa)
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Zwei Jahre ist es her: Am 19. Februar 2020 werden neun Menschen bei einem rassistischen Anschlag in Hanau getötet. Tobias R. tötet auf der Straße, auf einem Parkplatz, in drei Bars, in einem Kiosk. Sechs weitere Personen verletzt er. Zu Hause erschießt der 43-Jährige seine Mutter und sich selbst. Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu mussten sterben, weil ihnen der Mörder das Recht auf Leben absprach. Die Angehörigen und Hinterbliebenen stellen sich bis heute die Frage, ob damals die Morde hätten verhindert werden können?

Mehr Fragen als Antworten

Tatsächlich geht den Morden in Hanau eine lange Kette von behördlichem Versagen voraus. Warum wurde dem Täter die Waffenbesitzkarte nicht entzogen, obwohl Ermittlungs- und Strafverfahren liefen, in denen er bereits mit Verschwörungsideologien auf sich aufmerksam machte? Weshalb waren die Notausgänge der Arena-Bar in der Tatnacht verschlossen, sodass eine Flucht unmöglich wurde? Wie kann es sein, dass der polizeiliche Notruf trotz mehrfacher Versuche durch Vili Viorel Păun, der den Täter in seinem Auto verfolgte und später erschossen wurde, nicht erreichbar war? Und was hat es mit den Obduktionen der Ermordeten auf sich, bei denen etwa der Leichnam von Hamza Kurtović als „südländisch, orientalisch“ klassifiziert wurde?

Bis heute stehen mehr Fragen im Raum, als bisher Antworten gegeben wurden. Die Familien fühlen sich im Stich gelassen. Sie haben Zweifel und hegen inzwischen auch Misstrauen gegen eine Gesellschaft, der sie vorwerfen, zutiefst rassistisch zu sein.

Hanau hat bei Menschen Vertrauen zerstört

Auch zwei Jahren nach der Bluttat konnten die Wunden, die gerissen wurden, nicht verheilen. Ein Staat, der nicht schützt, eine Polizei, die nicht hilft, eine Gesellschaft, die nichts ändert. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen, der NSU-Komplex und Halle gingen dem Anschlag voraus. Hanau war kein Einzelfall und die Verhaltensmuster im Umgang mit den Taten ähneln sich: Behörden versagen und in der politischen Debatte wird die Verantwortung schnell von der Gesellschaft weg, hin zum rechten Rand geschoben. Es wurden viele Reden gehalten. Politikerinnen und Politiker drückten ihre Trauer, ihre Wut, ihre Abscheu für diese Tat aus. Altbekannte Sätze wie „Das darf nie wieder passieren“ waren an vielen Stellen zu hören. Worte, die man auch in der Vergangenheit immer wieder gehört hatte. Dann kam die nächste Tat. Hanau hat in vielen Menschen etwas zerstört – ihr Vertrauen.

Absichtserklärungen und Symbolpolitik

Zugegeben, als überzeugter Liberaler habe ich in den letzten Jahren eine gesunde Skepsis gegenüber dem Staat entwickelt. Ich bin bei Weitem nicht der Auffassung, dass der Staat alles richten soll und muss. Er muss aber die Sicherheit der Menschen in unserem Land garantieren. Das ist für mich eine der ureigensten Verpflichtungen, die der Staat gegenüber seinen Bürgern übernommen hat.

Im Bereich Rechtsextremismus habe ich immer wieder hehre Absichtserklärungen gehört und gelesen. Ernst gemeint. Nur reagiere ich immer sehr verhalten auf solche Absichtserklärungen. Vieles in der Bekämpfung des Rechtsextremismus in unserem Land wirkt auf mich wie Symbolpolitik und Absichtserklärung. Ohne Zweifel gut gemeint, aber wirkungslos. Wenn wir Rechtsextremisten bekämpfen wollen, dann müssen wir uns von der Schlagwortebene auf die analytische Ebene begeben. Diese Bereitschaft kann ich bis heute nicht erkennen.

Es braut sich etwas zusammen

Genau aus dieser Verweigerung zur Analyse heraus, ergibt sich aus meiner Sicht, dass die Gesellschaft immer wieder fassungslos vor Gewaltakten steht. Niemand hat etwas gewusst. Viele Entwicklungen werden bis heute von politischer Seite nicht rechtzeitig prognostiziert.

Der Rechtsextremismus hat sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Spätestens seit 2015 besteht für Rechtsextreme eine gute Chance, in der Gesellschaft anschlussfähig zu werden. Das geht längst nicht mehr in den althergebrachten Mustern. Die Szene wird sich anpassen müssen und ist auch gerade dabei. Der Neo-Nationalsozialismus wird von vielen sogenannten Experten immer noch als die typische Ausdrucksform rechtsextremistischer Ideologie begriffen. Tatsächlich hat die Szene allerdings erkannt, dass neo-nationalsozialistische Ideologie gesellschaftlich nur marginal verankert ist und daher als Brückenbauer zur Bevölkerung nicht geeignet ist. Vielmehr setzen die Strategen immer stärker auf eine Vermischung von rechtsextremistischer Ideologie und populistischen Elementen. Da braut sich in den letzten Jahren etwas zusammen, was die Gesellschaft noch eine ganze Zeit lang beschäftigen wird.

Was wir heute als Spaltung unserer Gesellschaft erleben, ist eine Spaltung im Identitätsbewusstsein. Der eine Teil will in einer multikulturellen Gesellschaft leben und der andere Teil möchte sich völkisch verriegeln. Diese Auseinandersetzung findet nicht nur in Deutschland statt, sondern ist ein europaweites, aber auch internationales Phänomen.

Ablehnungsfront reicht nicht aus

Die Corona-Politik seit 2020 hat Rechtsextremisten weitere Agitationsräume erschlossen. Hier setzen Extremisten nicht auf ihre eigenen klassischen Organisationsstrukturen, sondern nehmen an Veranstaltungen mit Menschen aus dem nichtextremistischen Milieu teil. Sie finden plötzlich einen Resonanzboden, der noch vor Jahren unmöglich gewesen wäre. Sie agieren unter dem Deckmantel, über die Freiheit in unserem Land verhandeln zu wollen, gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Antworten der Gesellschaft auf diese Entwicklungen sind wieder einmal unzureichend. Da wird von der Politik lamentiert und ausgegrenzt. Plötzlich fühlen sich dabei aber Menschen mit ausgegrenzt, die eigentlich nie Adressaten dieser Maßnahmen sein dürfen. Es kommt durch diese Stigmatisierung plötzlich zu Verbrüderungen, die dem gemeinsam empfundenen Druck geschuldet sind. Diese Entwicklungen sehe ich äußerst skeptisch und auch mit Sorge. Ich wünsche mir, dass analytisch herausgefiltert wird, welche Organisationen hier unter dem Deckmantel der Freiheitsverteidigung missionarisch unterwegs sind und wer kommuniziert hier mit den Menschen in welcher Weise? Nur eine Ablehnungsfront alleine wird auf Dauer angesichts der Gesamtlage nicht reichen.

Verqueres Weltbild ins Wanken bringen

In Hanau ist am 19. Februar eine Gedenkveranstaltung auf dem Hauptfriedhof geplant. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) werden an diesem Tag dabei sein. Erinnern, ins Bewusstsein rufen und auch den Hinterbliebenen Mitgefühl zu zeigen ist gut, wichtig und richtig. Es bleibt aber nur ein gutgemeintes Symbol, wenn es nicht gelingt, in die Köpfe von Extremisten vorzudringen.

Wir werden mit Rechtsextremisten reden müssen. Es geht nicht nur mit Polizei und Geheimdienst und Gerichten und Gefängnis. Wenn wir es nicht schaffen, deren verqueres Weltbild ins Wanken zu bringen, wird sich der strukturelle Erfolg im Kampf gegen Rechtsextremismus nie einstellen.

Es wäre naiv zu glauben, dass man Mordtaten wie Hanau zukünftig einhundert Prozent verhindern kann. Nur kann eine analytische Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtsextremismus bestimmte Entwicklungen früher erkennbar machen und es kann früher eingegriffen werden. Das könnte das Vertrauen der Menschen wieder zurückgewinnen. Nur so wird die Wunde Hanau am Ende wieder heilen können.

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