Archivbild: Der libanesische Premierminister Saad Hariri (r.) mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron (AP)
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Im Oktober 2019 entstand im Libanon eine breite Protestbewegung gegen die von Saad Hariri geführte Regierung. In Massendemonstrationen forderten Tausende nicht nur den Rücktritt der politischen Elite, sondern fundamentale Änderungen im politischen System. Hariri trat zurück. Doch war dies nur der Beginn einer Reihe von Krisen.

Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich kontinuierlich. Die an den US-Dollar gebundene Libanesische Lira verlor erstmals an Wert. Es kam zu einem Mangel an Fremdwährungen. Aufgrund einer Finanz- und Bankenkrise verloren viele Einwohner ihre Ersparnisse. Preise steigen kontinuierlich an. Die Mittelschicht leidet zunehmend unter Armut und Arbeitslosigkeit.

Inmitten dieser Krisen ereignete sich am 4. August die katastrophale Explosion am Hafen von Beirut, bei der mehr als 200 Menschen ums Leben kamen und Tausende verletzt wurden. Ein Teil der Metropole wurde zerstört. Die genauen Hintergründe sind noch nicht geklärt.

Auf dem Land lastet ein hoher Druck. Die im Januar ernannte technokratische Übergangsregierung von Hassan Diab trat infolge der Explosion zurück. Dem libanesischen Botschafter in Berlin, Mustafa Adib, gelang es nicht, ein neues Kabinett zu bilden.

Nun kehrt Saad Hariri als Kompromisskandidat zurück und sieht sich mit der schwierigen Herausforderung konfrontiert, eine Regierung zu bilden, die in der Lage sein soll, internationale Gelder und dringend benötigte Entwicklungshilfe zu sichern.

Die Hariris und die Krisen

Doch gehört Hariri zu ebenjener reichen Elite, die das Land in Richtung Kollaps bewegt hat. Seine politische Position hat der Milliardär von seinem Vater geerbt – dem im Jahr 2005 ermordeten Premier Rafik Hariri. Saad Hariri besitzt die Staatsbürgerschaft Frankreichs und Saudi-Arabiens und genießt gute Beziehungen zu den USA und zu europäischen Regierungen.

Rafik Hariri war seinerzeit maßgeblich an der Rekonstruktion des Landes nach dem Bürgerkrieg beteiligt. Er implementierte ein neoliberales System, in dem die Finanz- und Bankenkrise entstand. Viele der heutigen Probleme bestanden also bereits zu Saad Hariris früheren Amtszeiten.

Es stellt sich die Frage, ob Hariri ein System ändern würde, welches ihm erlaubte, trotz mangelnder Beliebtheit und Wahlverluste an der Macht zu bleiben?

Doch unabhängig von der Konstellation einer neuen Regierung, lässt sich die Vielzahl an Problemen nicht allein durch innenpolitische Bemühungen lösen.

Fragile Situation im Land

Die auf dem Konfessionalismus basierende politische Struktur und der Machtanspruch einer Vielzahl von Parteien, die sich teilweise ideologisch widersprechen, an derselben Regierung zu partizipieren, hat einerseits die Machtverhältnisse in Gleichgewicht gehalten, gleichzeitig aber weitreichende politische Veränderungen verhindert.

Zwar ist der Libanon eine parlamentarische Demokratie, doch reflektiert die Regierungsbildung nicht unbedingt das Wahlergebnis. Zum Beispiel gab es bei den letzten Wahlen im Jahr 2018 die als „8. März“ bekannte multikonfessionelle Koalition, zu der die vom Präsidenten Michel Aoun gegründete Partei FPM sowie Hezbollah gehören. Dennoch wurde eine Einheitsregierung gebildet.

Neben innenpolitischen Machtkämpfen ist die fragile Situation im Land auch auf äußere Dynamiken zurückzuführen. Regionale und internationale Akteure sind an der Destabilisierung des Landes mitverantwortlich.

Wie der Libanon für politische Konsolidierung von Außen genutzt wird, wurde zuletzt am Beispiel des französischen Präsidenten Emmanuel Macron deutlich. Frankreich, einstige Kolonialmacht im Libanon und in Syrien, versucht unter Macron, seine Machtposition international zu erneuern. Unmittelbar nach der Explosion reiste der französische Präsident nach Beirut und versprach vor allem der jungen Bevölkerung eine bessere Zukunft. Er stellte ihnen finanzielle Hilfe in Aussicht, wenn es libanesischen Politikern gelingen sollte, eine technokratische Regierung zu bilden. Macrons Reden wurden von Einigen gefeiert, aber von Vielen als herabwürdigend kritisiert.

Vorgehen der USA aggressiver

Unter der Führung von Donald Trump haben die USA ihre offensive Politik in der Region ausgeweitet. Washingtons Vorgehen gegen den Iran und dessen Verbündete sowie die offizielle „Normalisierung“ zwischen Israel und von den USA unterstützten Golfdiktaturen haben die Fronten in der Region verschärft.

Die Interessen der USA können nicht von den Zielen Israels getrennt werden. Das israelische Regime agiert als US-amerikanischer Proxy. Ein primäres Ziel der USA in Westasien ist es deshalb, die militärische Überlegenheit Israels zu sichern.

Seit der Staat Israel im Jahr 1948 in Palästina ausgerufen wurde, befindet er sich offiziell im Krieg mit dem benachbarten Libanon. Israel ist mehrfach in den Libanon einmarschiert, hat das Land bombardiert und den Süden unter einer brutalen militärischen Besatzung gehalten. Auch heute findet eine israelische Verletzung der libanesischen Souveränität fast täglich statt, während israelische Politiker kontinuierlich mit Zerstörung drohen.

Die mit Präsident Michel Aoun verbündete und vom Iran unterstützte politische Partei und bewaffnete Widerstandsbewegung Hezbollah wird von den USA und Israel als besondere Gefahr gesehen. Entstanden als Verteidigungsmacht gegen die israelische Besatzung in den 1980er Jahren, konnte Hezbollah im Laufe der Jahre mehrere militärische Erfolge gegen Israel verzeichnen. Die Bewegung wird von den USA, Israel, Deutschland und weiteren europäischen und arabischen Regierungen als „Terrororganisation“ sanktioniert, genießt jedoch Unterstützung im Libanon.

US-Sanktionen haben signifikant zur aktuellen Krise beigetragen. Zum einen hat die Trump-Regierung kontinuierlich Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Unternehmen und Banken sanktioniert. Zum anderen schaden die Sanktionen gegen den Iran und Syrien auf direktem Wege dem Libanon. Die libanesische Wirtschaft ist eng mit der des Nachbarlandes Syrien verbunden.

Dieser wirtschaftliche Druck ist Teil der breiteren Bemühungen, den Libanon politisch und gesellschaftlich zu destabilisieren und einen politischen Wandel durchzusetzen, der das Land pro-amerikanisch orientieren würde.

Ein Großteil der Bevölkerung bekommt diese kolonialen Dimensionen und wirtschaftlichen Sanktionen tagtäglich zu spüren. Trotz der sehr sichtbaren Präsenz vieler westlicher Medienanstalten und Journalisten im äußerst internationalen und mehrsprachigen Beirut, fehlen diese Dynamiken oftmals in westlichen Berichterstattungen.

In Anbetracht der Vielzahl an historischen und sozioökonomischen Faktoren, die den Alltag im Libanon prägen, mag die Umformung der Regierung vielleicht keine langzeitig effektive Lösung sein.

Hariri kehrt nun während einer beispiellosen Krise zurück – als Premierminister einer Bevölkerung, die unter Sanktionen überlebt. Für Hariri wird es keine leichte Aufgabe sein, Unterstützung zu bekommen – weder innerhalb der Bevölkerung noch von internationalen Akteuren.

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