Statuen des brutalen Kolonialherrschers wurden von Demonstranten beschädigt (AA)
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Als sich 2020 Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt auch nach Europa erstrecken, traten dadurch in Belgien auch anti-koloniale Forderungen in den Vordergrund.

Die mediale Aufmerksamkeit, die der brutale Mord am Afroamerikaner George Floyd erregte, hob erneut den strukturellen Rassismus in den Vereinigten Staaten hervor. In europäischen Metropolen mündete die Transnationalisierung der Black-Lives-Matter-Bewegung in Demonstrationen gegen Polizeigewalt, Rassismus und die kulturelle und politische Präsenz der brutalen Kolonialvergangenheit.

Die europäische Kolonialgeschichte ist noch lange nicht abgeschlossen. Auch wenn die meisten ehemaligen Kolonien seit Jahrzehnten offiziell unabhängig sind, wurde in den ehemaligen Kolonialreichen eine umfassende Auseinandersetzung mit den eigenen Verbrechen kaum initiiert.

Belgien bildet hier keine Ausnahme

Die Proteste im letzten Jahr stießen Debatten über die rassistische Geschichte des Königreiches an. Statuen des brutalen Kolonialherrschers König Leopold II. wurden von Demonstranten beschädigt. Später wurden einige von offizieller Seite entfernt.

Tatsächlich reagierte die belgische Elite. Der amtierende König Philippe, ein direkter Nachfahre von Leopold II., äußerte in einem Brief an den Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo, Félix Tshisekedi, sein „tiefstes Bedauern“ für die „Verletzungen der Vergangenheit“ und räumte „Akte der Gewalt und der Grausamkeit“ ein, die begangen wurden und heute noch auf Belgiens „kollektiven Erinnerungen lasten“.

Er zeigte sich zwar bereit, gegen Rassismus zu kämpfen, bot jedoch keine offizielle Entschuldigung an.

Ähnlich äußerte im Rahmen des 60. Jahrestags der Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Kongo die belgische Premierministerin Sophie Wilmès, die Vergangenheit sei “von Ungleichheit und Gewalt gegenüber den Kongolesen gezeichnet”. Sie drückte ihre Unterstützung für eine tiefgründige und tabulose Debatte aus. Eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ solle initiiert werden.

Mangelhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Dies wären jedoch nur marginale Schritte in Richtung einer Aufarbeitung. Symbolische Bekundungen von Bedauern und Reue, wie sie nun schon oft von der europäischen Elite proklamiert wurden, stellen jedoch keine Aufarbeitung der Vergangenheit dar. Die Frage nach Reparationen bleibt weiterhin unbeantwortet.

Doch kamen selbst diese neuen Eingeständnisse eher als Reaktion auf den Druck von Demonstranten. Es scheint schwierig, sich in Zeiten globaler anti-rassistischer Bewegungen wie Black Lives Matter weiterhin kategorisch jeglicher Verantwortung zu entziehen.

Das neue „Bedauern“ Belgiens darf auch als gute Öffentlichkeitsarbeit gesehen werden. Brüssel kann sich als einsichtig und fortschrittlich präsentieren.

Die Frage nach Reparationen bleibt aber weiterhin unbeantwortet. Eine Aufarbeitung der Geschichte ist vor allem deswegen schwierig, weil sich die Folgen der Kolonialverbrechen bis in die Zukunft erstrecken, sowohl in den Kolonien als auch in der Metropole.

Tatsächlich weist die derzeitige Situation eine Fortführung kolonialer Mentalität auf. Dass auch sechs Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit des Kongo Statuen von König Leopold öffentliche Plätze in Belgien prägen, spricht für sich.

Was geschah im Kongo?

Belgien konsolidierte seinen wirtschaftlichen Aufstieg durch die brutale Ausbeutung des Kongo.

Als Belgien dem sogenannten Wettlauf um Afrika im späten 19. Jahrhundert beitrat, hatten die großen europäischen Kolonialmächte ihre Kolonialisierung bereits vorangetrieben.

König Leopold II. sah den Kolonialismus als ein Mittel, um Belgiens internationale Rolle zu stärken. Im Gegensatz zu vorherrschenden Praktiken der damaligen Zeit war der Kongo ursprünglich keine offizielle belgische Kolonie, sondern wurde zum persönlichen Privatbesitz von Leopold deklariert.

Auch Belgien folgte der sogenannten Zivilisierungsmission. Die indigene Bevölkerung wurde nicht nur im Rahmen des eurozentrischen Rassismus dehumanisiert und sollte „zivilisiert“, verwestlicht und zum Christentum konvertiert werden. Belgien versklavte die einheimischen Kongolesen durch Zwangsarbeit.

Die reichen Naturschätze des Landes wurden skrupellos ausgeplündert. Belgien erbeutete unter anderem Öl, Kupfer, Gold und Diamanten.

Es wird geschätzt, dass die Hälfte der Kongolesen im belgischen Völkermord getötet wurde. Die einheimische Bevölkerung starb an Krankheiten, die von europäischen Kolonisten eingeschleppt worden waren. Auch das Abhacken von Körperteilen war gängige Praxis.

Koloniale Gewalt in Belgien

Die koloniale Gewalt fand auch in Belgien statt. Einige Kongolesen wurden auf grausame Art und Weise nach Belgien gebracht und bis in die späten 1950er Jahre in Ausstellungen und menschlichen Zoos vorgeführt, um die angebliche Primitivität der Kongolesen darzustellen. Viele starben aufgrund der Strapazen der Reise und weil sie in Europa neuen Krankheiten ausgesetzt wurden. Genau auf solchen Fantasien einer rassischen Überlegenheit baute sich das moderne Europa auf.

Belgiens koloniale Grausamkeit endete auch nicht mit der Unabhängigkeit des Kongo 1960. Der erste demokratisch gewählte Premierminister des Kongo, Patrice Lumumba, ein Nationalheld und Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, wurde Opfer eines Mordplans belgischer und US-amerikanischer Regierungen. Lumumba war ein Verfechter der panafrikanischen Solidarität und sah die Unabhängigkeit des Kongo als entscheidenden Schritt zur Befreiung des afrikanischen Kontinents. Er wurde ermordet, seine Leiche zerstückelt und in Säure aufgelöst. Erst 2000 wurde eine Kommission eingerichtet, um die Ursachen zu klären. Bis heute wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Die sterblichen Überreste Lumumbas, ein Zahn, wurden erst im Dezember 2020 an den Kongo übergeben.

Belgiens Kolonialverbrechen sind keine Ereignisse der Vergangenheit. Die katastrophale Situation in der Demokratischen Republik Kongo heute lässt sich auf die belgische Kolonialzeit zurückführen.

In Belgien wie im Rest Europas ist Rassismus weiterhin ein strukturelles Problem. Ein Menschenrechtskomitee der UN äußerte sich erst kürzlich besorgt über rassistische Polizeigewalt in Belgien. Unter ethnischen Minderheiten ist das Misstrauen der Polizei gegenüber groß, vor allem aufgrund tödlicher Vorfälle von Polizeigewalt.

Koloniale Mentalität, mangelnde Auseinandersetzung mit der brutalen Vergangenheit sowie Polizeigewalt tragen zu einer fortwährenden Unsicherheit unter Minderheiten im multikulturellen Belgien bei. Ähnlich wie unter anderen ehemaligen Kolonialmächten wie Frankreich oder Deutschland findet die Kolonialzeit wenig politische Aufmerksamkeit, obwohl sie weiterhin die Identität des Landes prägt. Eine aufrichtige Aufarbeitung des Kolonialismus ist jedoch ohne eine Auseinandersetzung mit dem heutigen strukturellen Rassismus nicht möglich. Kolonialismus ist Teil der europäischen Identität.

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