Atomkraftwerk Akkuyu in Türkiye. (AA)
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Die Tatsache, dass Türkiye mit dem ersten Reaktorblock, der zum 100. Jahrestag der Gründung der Republik ans Netz gehen und damit erstmals Strom aus Kernenergie produzieren wird, verringert die Abhängigkeit des Landes von ausländischen Energielieferungen. Mit dem Atomkraftwerk Akkuyu, das in der Endausbaustufe mit insgesamt 4 Blöcken bis 2026 in Betrieb gehen soll, wird Türkiye Strom aus einer letztlich klimafreundlichen Ressource erzeugen. Zugleich sammelt Türkiye bereits in der Bauphase des auf insgesamt 4.800 Megawatt ausgelegten Kraftwerks wertvolle Erfahrungen. So wurde beispielsweise im Rahmen des mit Russland unterzeichneten Protokolls vereinbart, dass etwa 600 eigene technische Mitarbeiter in Russland ausgebildet werden und in der Bauphase schon zum Einsatz kommen, was im Hinblick auf den erhofften Technologietransfer sehr wichtig ist.

Die Nutzung der Kernenergie ist weltweit, insbesondere bei den Industrienationen, weit verbreitet. Entsprechend deckt die Kernenergie mit den 441 Reaktoren, die in 32 Ländern betrieben werden, etwa 10 Prozent der globalen Stromerzeugung ab. So produzieren 92 Kernreaktoren in den USA, 54 in China, 33 in Japan, 11 in Großbritannien und 3 in Deutschland Strom. Darüber hinaus setzen 13 der 27 EU-Mitgliedstaaten auf Kernkraftwerke bei der Stromerzeugung. Insgesamt kommen in diesen EU-Ländern aktuell 106 Kernreaktoren zum Einsatz.

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland macht Atomenergie für die EU obligatorisch

Frankreich, das mehr als 70 Prozent seines Stroms aus Kernenergie gewinnt, plant schon jetzt den Bau neuer Kraftwerke, wohingegen einige andere Länder, angeführt von Deutschland, angekündigt haben, die Stromerzeugung aus Kernenergie einzustellen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat in der EU jedoch für neue Diskussionen über diese Thematik gesorgt. Während sich EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn und Polen, aber auch Frankreich, dafür aussprechen, die Kernenergie in die Kategorie umweltschonender Energiequellen aufzunehmen, um den Ausbau damit fördern zu können, lehnen EU-Länder wie Deutschland und Österreich dies kategorisch ab. Damit aber die EU ihr Ziel erreichen kann, ihre Emissionen aus dem Energiesektor bis 2050 auf null zu reduzieren, scheint es unabdingbar, dass sie erneut grünes Licht für die Kernenergie gibt. Schon heute liefert Kernenergie etwa ein Viertel des Stroms in den EU-Staaten.

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich die Haltung der EU gegenüber der Kernenergie grundlegend gewandelt. Vor Ausbruch des Konflikts hatte beispielsweise Belgien angekündigt, 2023 zwei Kernreaktoren abzuschalten. Angesichts der jüngsten Entwicklungen wurde diese Entscheidung um zehn Jahre verschoben. Überdies hat die EU-Kommission kürzlich ihren REPowerEU-Plan veröffentlicht, der die Abhängigkeit von Russland im Energiebereich verringern soll. Im Rahmen dieses Plans hält die EU-Kommission an der Stromerzeugung aus Kernenergie fest und sieht die Kernkraft als wichtige Quelle für die Energieversorgungssicherheit. Darüber hinaus werden in dem Plan, der auch die Bedeutung von Wasserstoff, gewonnen aus Kernenergie, betont, Investitionen zur Verlängerung der Lebensdauer bestehender Kernkraftwerke angekündigt.

Umbrüche in der Energieerzeugung und -versorgung sind keine Maßnahmen, die von heute auf morgen erfolgen. Entsprechend sind Zeit und Investitionen erforderlich, um die bestehende Infrastruktur im Rahmen der vorgelegten Pläne fortzuentwickeln. Daher sind ein langer Atem und zudem erhebliche Investitionen erforderlich, um die Abhängigkeit der EU von Öl und Erdgas aus Russland zu verringern. Der als kurzfristiges Lösungsrezept für die Abhängigkeit der EU von Russland vorgelegte REPowerEU-Plan überrascht mit der Ausweitung der LNG-Zukäufe und der Verlängerung der intakten Atomkraftwerke in diesem Sinne nicht wirklich.

Warum ist Kernenergie wichtig für die Republik Türkiye?

Türkiye ist im Energiebereich zu etwa 70 Prozent von ausländischen Lieferungen abhängig und importiert insbesondere Erdgas und Kohle für die Stromerzeugung aus dem Ausland. Während diese Situation einerseits die Energiesicherheit des Landes gefährdet, erhöht sie darüber hinaus das Leistungsbilanzdefizit. Als naheliegende Lösungen drängen sich die aktivere Nutzung erneuerbarer und eben auch nuklearer Energiequellen auf.

Ein Blick auf die zwanzig wichtigsten Volkswirtschaften der Welt verdeutlicht, dass der Anteil der Nutzung von Kernenergie bei etwa 80 Prozent liegt. Zudem zeigt sich, dass selbst energiereiche Staaten wie Kanada und Russland in hohem Maße von der Kernenergie profitieren. Angesichts dessen, dass 99 Prozent des Erdgases und 92 Prozent des verbrauchten Erdöls importiert werden müssen, wäre es nicht im Interesse des Landes, auf diese alternative Energiequelle zu verzichten.

Mit der nunmehr planmäßigen Inbetriebnahme des im Bau befindlichen Kernkraftwerks wird Türkiye die Ressourcen ihres Energieportfolios weiter diversifizieren und folglich auch die eigene Energiesicherheit erhöhen. Auf diese Weise wird auch dem Inflationsdruck und dem Leistungsbilanzdefizit als Folge stetig steigender Energiepreise ein Riegel vorgeschoben, indem man den Preissteigerungen ausländischer Lieferanten durch sinkende Abnahmemengen Einhalt gebietet. So gesehen wird die Umgestaltung der Stromerzeugung der Republik Türkiye, da auch diese, wie EU-Mitgliedstaaten, mindestens ein Viertel ihres Stroms aus Kernkraft bezieht, das Land in Zeiten steigender Energiepreise sowohl wirtschaftlich als auch energiepolitisch entlasten.

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