UN und EU erinnern an Jahrestag des Genozids an Muslimen in Srebrenica (AA)
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Unschuldige Bosniaken, die beim Völkermord von Srebrenica ums Leben kamen, hatten sich zuvor in der Hoffnung auf Rettung auf einen etwa hundert Kilometer langem Fußmarsch begeben. Die meisten von ihnen überlebten ihn nicht. In Erinnerung an die Opfer findet seit 2005 jedes Jahr auf diesem jetzt „Friedensweg“ genannten Waldweg eine Wanderung statt. Der Verein „Zeitzeugen“ hat dabei diesen Marsch verlängert und startet ihn aus Sarajevo. Mitglieder des Vereins absolvieren die 280 Kilometer lange Wanderung in acht Tagen. Vereinspräsident Muhamed Pepiç erklärt, dass es inzwischen Teilnehmer aus Türkiye, Deutschland, den USA und vielen anderen Ländern sowie aus Bosnien und Herzegowina gibt.

Als Verein organisieren Sie seit Jahren den Friedensmarsch Sarajevo - Nezuk - Potocari. Wie begann dieser Marsch, und was war sein Hauptzweck?

Ich hatte zuvor am Nezuk-Potocari-Friedensmarsch teilgenommen. Diese Wanderung dauert drei Tage. Damals hat es mich verärgert, dass die Städte Srebrenica, Potocari und der Völkermord im Allgemeinen nur in diesem Zeitraum von drei Tagen und am Gedenktag des Völkermords Aufmerksamkeit erfuhren. Ich fand es schade, dass Srebrenica nur am 11. Juli Erwähnung fand und in den folgenden Monaten nicht mehr. Wir wollten diesen Zeitraum um mindestens ein paar Tage verlängern und so das Thema auf der Tagesordnung halten. Als wir 2010 aus Potocari zurückkehrten, begannen wir zu recherchieren, welche Route von Sarajevo aus wohl die bequemste wäre. Schließlich hielten wir 2012 den ersten Marsch ab. Unser Ziel ist es, daran zu erinnern, was in ganz Bosnien und Herzegowina und insbesondere in Srebrenica während des Kriegs passiert ist, die Opfer und ihr Leid nicht in Vergessenheit geraten zu lassen sowie deutlich zu machen, was Menschen anderen Menschen an Leid zufügen können.

Wie haben Sie sich bei Ihrem ersten Marsch gefühlt?

Wir brachen 2012 als Gruppe von zwölf Personen von Sarajevo aus auf. Davor konnten wir tagelang nicht schlafen. Es ist sehr schwierig, diese Emotionen in Worte zu fassen, weil wir wissen, mit welcher Verzweiflung die Menschen sich auf den Weg gemacht haben, welche Strapazen sie durchlitten haben und mit welcher Brutalität sie am Ende ermordet wurden. All dies schlägt sich auf die Emotionen nieder. Manche empfinden diesen Marsch manchmal als „hart und schwer“. Sobald man sich aber die Erlebnisse jener Menschen von damals vor Augen hält, erscheinen die Waldwege, die Höhenunterschiede, das Kampieren vor Ort nicht mehr als Belastung. Die Gedanken kreisen während des Marsches um das Leid, das die Menschen damals durchlitten haben.

Haben sich Ihre Gefühle über die Zeit verändert oder sind sie schwächer geworden?

Die Emotionen werden überhaupt nicht schwächer, ganz im Gegenteil kann ich sogar sagen, dass diese von Jahr zu Jahr schwerer wiegen, weil wir jedes Jahr etwas Neues aus den Lebensgeschichten der Opfer lernen und sich dadurch unsere Gefühlswelt verändert. Wir marschieren nunmehr seit elf Jahren und erfahren ständig neue und verstörende Details über die erlittenen Strapazen und die Ermordung dieser Menschen. In diesem Sinne nimmt die Erinnerung an Srebrenica kein Ende.

Was genau war dieser Waldweg, den die Opfer von Srebrenica damals in der Hoffnung auf Rettung beschritten haben?

Wir sprechen von einem Weg mit sehr schwierigen Bedingungen. Wir marschieren und tun uns dabei schon schwer. Die Opfer nahmen diesen Marsch hungrig, durstig, barfuß und teils verletzt in Angriff. Die Unverletzten nahmen die Verwundeten auf den Rücken, und alle waren mit ihren Gedanken bei ihren Familien, die sie zurücklassen mussten und fürchteten um sie. Aus dem Hinterhalt schossen die Serben auf sie und töteten die Menschen auf der Flucht. Auch heute ist es nicht einfach, mit diesen Gefühlen zu marschieren, aber dennoch machen wir das mit einem gewissen Stolz, weil wir selbst nicht vergessen und auch andere nicht vergessen lassen.

Entdecken Sie unterwegs irgendwelche Überreste oder Spuren aus dieser Zeit?

In all den Jahren, in denen wir diesen Marsch durchgeführt haben, hörten wir immer wieder aufs Neue, was, wem, an welcher Stelle des Weges widerfahren ist und wo unschuldige Bosniaken von Serben aus dem Hinterhalt angegriffen wurden. 2019 wurde erstmals der letzte Teil des Wegs für den Fußverkehr freigegeben. Dieser Teil ist eigentlich der schwierigste, weil wir neun Bäche durchqueren müssen. Dort fanden wir in der Vergangenheit immer wieder Kleidungsstücke, menschliche Knochen, Konserven, Besteck und Taschen. In diesem Teil bekommt man das klarste Bild davon, was damals passiert ist, kann den Schmerz, den diese Menschen ertragen mussten, fühlen und kann selbst diese Vorstellung schwerlich ertragen. Überlebende berichteten, dass genau in diesem letzten Abschnitt tausend Menschen in einem Hinterhalt getötet wurden.

Warum ist es wichtig, dass jeder mindestens einmal am Friedensmarsch teilnimmt?

Zuallererst, um sich zumindest eine Vorstellung des Schmerzes zu machen. Ich sage eine Vorstellung, weil es für uns eigentlich unmöglich ist, auch nur annähernd das wirkliche Ausmaß des Leids zu erahnen. Dennoch können wir dies versuchen. Damit niemand jemals wieder so etwas erleiden muss. Und damit verstanden wird, was Menschen anderen Menschen nicht antun sollten. Und natürlich ist es wichtig, den Völkermord von Srebrenica nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und die Wahrheit über ihn zu vermitteln.

Bosniaken in Srebrenica werden immer noch mit Provokationen konfrontiert. So will beispielsweise an diesem 11. Juli eine rassistische serbische Vereinigung in Srebrenica einen Film über General Ratko Mladic, verurteilt wegen Völkermords, aufführen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Diese Provokationen werden wohl nicht enden, bis alle den Völkermord und die Wahrheit darüber, was die Kriegsverbrecher, die jetzt immer noch als Helden verehrt werden, verbrochen haben, akzeptieren. Ich habe nie eine ganze Nation für etwas verantwortlich gemacht. Aber diejenigen, die Kriegsverbrechen begangen haben, und diejenigen, die sie dabei unterstützten, müssen bestraft werden. „General“ Ratko Mladic, den sie immer noch als „Helden“ verehren, verbringt seine Tage in Windeln gewickelt in einer Gefängniszelle. Wenn wir uns auf den Marsch begeben, zeigen uns Serben oft drei Finger, das Zeichen der Tschetniks, und lassen deren Lieder über Lautsprecher laufen. Sie machen das, um uns zu provozieren, aber offenbaren eigentlich nur, welch erbärmlicher Geist sie umtreibt.

Vielen Dank für das Gespräch!

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