03.07.2022, Ukraine, Lyssytschansk: Auf diesem von der Militärverwaltung der Region Luhansk zur Verfügung gestellten Foto sind am frühen Sonntag, 3. Juli 2022 beschädigte Wohngebäude in Lyssytschansk in der Region Luhansk in der Ukraine zu sehen. (dpa)
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Nur wenige haben den Angriffskrieg Russlands in dieser Brutalität und in diesem Umfang erwartet. Und nur ausgewiesene Kenner der Ukraine haben ihr zugetraut, so lange erfolgreich gegen die zweitgrößte Armee der Welt zu bestehen.

Damit hat niemand gerechnet

Nach dem Debakel in Kiew zu Kriegsbeginn hat Moskau seine Militärstrategie geändert und konzentriert sich seit April auf den Donbass und den Süden des Landes. Russische Truppen erobern mühsam und unter hohen Verlusten Ortschaft für Ortschaft im Osten, sie kontrollieren nach fünf Monaten Krieg knapp 25 % der Ukraine. Durch überraschende Raketenangriffe im gesamten Land versetzen sie die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Personelle Schwächen der Truppen werden durch massiven Einsatz von Artillerie ausgeglichen, dabei kommt es immer wieder zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung.

Die ukrainische Seite kämpft verbissen, musste aber immer wieder Gelände preisgeben, um allzu große Verluste zu vermeiden. Mit vermehrtem Einsatz moderner und weitreichender Waffen, die vor allem von den USA und Großbritannien, aber auch von Deutschland und der Türkei geliefert wurden, scheint es der ukrainischen Armee zu gelingen, den Angriff zu bremsen und den russischen Truppen starke Verluste zuzufügen. Bisher war sie aber nicht in der Lage, umfangreiche Gegenangriffe durchzuführen und größere Gebiete zurückzuerobern.

Russland ist nicht isoliert

140 Staaten haben in der Vollversammlung der Vereinten Nationen den Angriffskrieg verurteilt, doch viele einflussreiche Länder zeigen im politischen Alltag keine Berührungsängste mit Putin. China trägt die Sanktionen gegen seinen wichtigsten strategischen Partner nicht mit. Peking vermeidet zwar eine offene Unterstützung Moskaus, verbreitet aber das russische Narrativ von einer Provokation der NATO unter US-Führung. Mitte Juni 2022 lehnten die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) die Sanktionen ab und stärkten Russland den Rücken.

Indien und Indonesien wiederum haben sich spontan bereit erklärt, russisches Öl zu kaufen, das nicht mehr in die EU fließt. Das Treffen der iranischen, russischen und türkischen Präsidenten Mitte Juli veranschaulicht, dass sich eine antiwestliche Gruppierung formiert und Russlands Einmarsch vielerorts Verständnis oder Zustimmung findet.

Doppelstrategie der westlichen Welt

Nach der ersten Schockstarre legten sich vor allem EU und USA auf eine Doppelstrategie fest: volle Unterstützung für die Ukraine (ohne direkten militärischen Beistand) und harte Sanktionen gegen Russland.

Doch selbst sieben Sanktionspakete der EU konnten bislang Russlands Präsidenten Wladimir Putin in seinem Krieg gegen die Ukraine nicht stoppen. Er ist kriegsentschlossener denn je, und Russland hat nach der Annexion der Krim 2014 gelernt, mit Sanktionen umzugehen oder sie zu umgehen. Außerdem wirken Strafmaßnahmen in der Regel eher mittel- und langfristig.

Im Energiebereich haben sich die Sanktionen für die EU als zweischneidiges Schwert erwiesen, da viele Mitglieder in hohem Maße von russischen Öl- oder Gaslieferungen abhängig sind. Ein Totalausfall könnte zu ernsthaften wirtschaftlichen Turbulenzen in ganz Europa führen. Man sucht daher fieberhaft nach alternativen Lieferanten und forciert den Ausbau alternativer Energien.

Die größte wirtschaftliche Bürde tragen die EU-Staaten, die mittlerweile auch etwa fünf Mio. ukrainische Flüchtlinge beherbergen.

Hunger als „Kollateralschaden“

Neben der Corona-Pandemie schwächt jetzt auch der Krieg in der Ukraine die Weltwirtschaft. Exorbitante Energiekosten sowie rasant steigende Nahrungsmittelpreise sorgen für Aufruhr. Russland kontrolliert als größter Weizenexporteur nun auch einen Teil der ukrainischen Lagerbestände und somit den Weltmarkt. Im Nahen Osten und in einigen afrikanischen Ländern kommt es bereits zu Engpässen, die Regierungen unter Druck setzen.

Vermittlungsversuche der UNO und der Türkei, die Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine zu ermöglichen, führten zwar zu einem Abkommen. Bedauerlicherweise wurde die Abmachung aber schon am nächsten Tag durch einen russischen Raketenangriff auf Odessa torpediert.

Keine Lösung in Sicht

Derzeit ist kein rasches Kriegsende abzusehen. Die eigentliche Absicht Putins bleibt weiter im Dunkeln, aber sein Außenminister Lawrow hat Ende Juli kein Hehl daraus gemacht – Russland möchte die Regierung in Kiew stürzen und weitere Gebiete erobern. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij pocht dagegen auf die volle Souveränität und territoriale Integrität seines Landes. Er kündigt eine Großoffensive zur Rückeroberung aller besetzten Gebiete an und fordert den vollständigen Abzug russischer Truppen – auch von der Krim. Absolut konträre Positionen der Kriegsparteien geben keinerlei Spielraum für Gespräche oder Verhandlungen. Beide Seiten wollen militärische Fakten auf dem Boden schaffen.

Was heißt das für die Zukunft?

Der Krieg in der Ukraine wird immer mehr zum „politischen Alltag“. Es wurde allen klar, dass Putin für seine geopolitischen Visionen kompromisslos seine wichtigsten Waffen einsetzt – das Militär, Öl und Gas. Damit hat sich Europa abzufinden und entsprechende Konzepte und Strategien zu entwickeln.

Putin selbst hat zwar Anfang Juli 2022 schmerzhafte Auswirkungen der Sanktionen auf Russlands Wirtschaft eingeräumt. Negative Wirtschaftszahlen und in Scharen ausreisende IT-Spezialisten dürften den russischen Präsidenten aber in absehbarer Zeit nicht vom Krieg abhalten.

Will man den militärischen Überfall nicht stillschweigend akzeptieren und dem Vormarsch Einhalt gebieten, sind Sanktionen per se alternativlos. Der Zusammenhalt der EU-Staaten stand bisher grosso modo nicht in Frage, allerdings mehren sich angesichts zunehmender Probleme kritische Stimmen. Dabei kommt es gerade in dieser Situation darauf an, Ruhe zu bewahren und einen langen Atem zu haben.

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