SPD-Fraktionstreffen in Berlin (Reuters)
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„Rien ne va plus – Nichts geht mehr“

Mit Schließung der Wahllokale um 18.00 Uhr flackert schon die erste Prognose über die Bildschirme und bringt die Emotionen bei den Parteien in Wallung. Im Willy-Brand-Haus (SPD) ist eine riesige Euphorie entfacht, die selbst der kühle Kanzlerkandidat Olaf Scholz aus dem Norden nicht mehr bändigen kann. Im Konrad-Adenauer-Haus (CDU) und in der Parteizentrale der Linken im Karl-Liebknecht-Haus machen sich dagegen Tristesse und Ernüchterung breit.

Die Partei des Spitzenkandidaten der CDU/CSU, Armin Laschet, Spitzname „Türken-Armin“, und die Spitzenpolitikerin der Linken, Sevim Dağdelen, deren Spitzname aus rechtlichen Gründen hier keine Erwähnung findet, demonstrieren eindrucksvoll, wie man mit Realitätsverweigerung und Orientierungslosigkeit der eigenen Partei großen Schaden zufügen kann. Es ist eine überfällige Abrechnung mit den etablierten Parteien, die in der jüngeren Vergangenheit Wähler mit ausländischen Wurzeln in populistischer Manier politisch instrumentalisiert haben.

Politischer Abstand der Parteien zu PKK und FETÖ als Gradmesser

Schon im Vorfeld der Bundestagswahlen waren Türkei-affine Themen, die vorwiegend die türkische Community tangierten, in den türkischsprachigen Medien omnipräsent. Insbesondere die politische Einstellung der Parteien und die persönlichen Sympathien der Politiker in Bezug auf die Türkei sowie ihr Verhältnis zu den Terrororganisation PKK und FETÖ standen ganz oben auf der Prioritätenliste, was für viele Wähler ausschlaggebend war, um einer Partei ihr Vertrauen zu schenken.

Mit ihren Sympathiebekundungen für die Terrororganisation PKK hat die Linke Wähler mit türkischen Wurzeln massiv abgeschreckt und mit 4,9 Prozent der Wählerstimmen ein historisches Wahldebakel eingefahren. Obwohl sie die 5-Prozent-Hürde nicht überwunden hat, wird sie aufgrund der Grundmandatsklausel – mindestens drei gewonnene Direktmandate – als Fraktion mit 39 Abgeordneten im neuen Deutschen Bundestag vertreten sein.

Im Fokus standen SPD und Team Todenhöfer

Die Bundestagswahl war in den sozialen Medien ein Dauerbrenner. Bei den Wählern mit türkischen Wurzeln zeichnete sich hauptsächlich ein Zweikampf zwischen der altehrwürdigen SPD und der neugegründeten Partei Team Todenhöfer ab. Auf der Suche nach einer Lösung für die drängendsten Probleme stand man vor der Option, die SPD zu favorisieren, die zwar nur partiell die Interessen der türkischstämmigen Wähler vertritt, aber gute Chancen hat, die nächste Bundesregierung zu stellen, oder die Partei von Jürgen Todenhöfer zu unterstützen, bei der man sicherlich die größere politische Schnittmenge sah, deren Einzug in den Deutschen Bundestag jedoch nicht gesichert schien.

Im Verlauf des Wahlabends kristallisierte sich dann mit jeder neuen Hochrechnung heraus, dass die Würfel zugunsten der SPD gefallen waren. Wähler mit türkischen Wurzeln haben sich mehrheitlich für die gediegene SPD entschieden. Für Aufbruch und Erneuerung ist die Zeit anscheinend noch nicht reif. Es liegt nun im Verantwortungsbereich der gewählten SPD-Abgeordneten, die Interessen ihrer Wähler mit türkischen Wurzeln offensiv und gewissenhaft zu vertreten.

Todenhöfer, Özil und die deutschen Medien

Rückblickend muss sich die Partei von Jürgen Todenhöfer die Frage stellen, ob ihre Wahlkampfstrategie wirklich aufgegangen ist. Mit einem Stimmenanteil von über 200.000 Wählern, was ungefähr 0,5 Prozent der abgegebenen und gültigen Stimmen ausmacht, wurden die im Wahlkampf geäußerten Hoffnungen und gesteckten Ziele definitiv nicht erreicht. Das Team Todenhöfer muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ob es wirklich zielführend war, eine Bildaufnahme mit dem ehemaligen deutschen Nationalspieler Mesut Özil als Marketingmaßnahme öffentlichkeitswirksam einzusetzen und damit unentschlossene autochthone deutsche Wähler zu vergraulen. Dabei stürzten sich Teile der deutschen Medien auf Team Todenhöfer und versuchten, ihn als radikalen Islamisten sowie Assad-Unterstützer zu stigmatisieren und damit potentielle Wähler zu vergraulen.

Es stellt in unserer heutigen Zeit kaum ein Problem dar, als ehemaliger deutscher Fußballnationalspieler kinderpornografische Aufnahmen zu besitzen und weiterzuleiten oder als aktueller Nationalspieler im Urlaub rechtsradikale Lieder zu grölen. Aber ein Bild mit einem demokratisch gewählten Präsidenten eines NATO-Partners wird als Aufhänger genommen, um einen verdienten Nationalspieler seit Jahren medial zu kriminalisieren und zu diffamieren. Das hätte das Team Todenhöfer bei seiner strategischen Ausrichtung mit einkalkulieren müssen.

Wahlaufruf und Verluste bei der AfD

Der Blick der Wähler mit türkischen Wurzeln richtet sich auch auf das Ergebnis der rechtspopulistischen AfD, die mit ihren antidemokratischen, rechtsextremen sowie islamfeindlichen Parolen Zulauf insbesondere im Osten Deutschlands erfährt und ihren Wählern dauerhaft eine politische Heimat anbietet. Man kann nunmehr mit Klarheit konstatieren, dass aus Protestwählern mittlerweile Stammwähler geworden sind, die die menschenverachtende Ideologie der AfD teilen und damit zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Der wichtige Wahlaufruf der türkischstämmigen Verbände vor der Bundestagswahl hat mit dafür gesorgt, dass durch die erhöhte Partizipation an der Wahl die AfD empfindliche Verluste hinnehmen musste.

Votum für SPD mit politischen Erwartungen verbunden

Als Ergebnis der Analyse zur Bundestagswahl kann man festhalten, dass die Wähler mit türkischen Wurzeln zum Sieg der SPD beigetragen und damit eine Erwartungshaltung gegenüber den Sozialdemokraten ausgelöst haben, unter anderem in der politischen Betrachtung der Themenfelder doppelte Staatsbürgerschaft, mehrsprachige Erziehung und Bildung sowie gleichberechtigte Partnerschaft mit der Türkei.

Die Anzahl der Wähler mit türkischen Wurzeln nimmt mit jeder Wahl weiter zu. Daher sollte die SPD das in sie gesetzte Vertrauen ernstnehmen und die Interessen der Bürger mit türkischen Wurzeln gewissenhaft wahrnehmen, um bei zukünftigen Wahlen von Bürgern mit türkischen Wurzeln erneut ernstgenommen zu werden.

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