Symbolbild: Eine junge Frau mit Kopftuch sitzt an einem Weg. (dpa)
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Mit den Bundestagswahlen am 26. September 2021 geht eine Ära zu Ende: Angela Merkel, die erste deutsche Bundeskanzlerin, zählte viele Jahre zu den „mächtigsten Frauen“ der Welt. Die Finanzkrise 2008, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ (globale Fluchtbewegung) seit 2015, Brexit, die Rassismus-Debatte seit Sommer 2018, der Klimawandel und nicht zuletzt der COVID-19-Ausbruch seit März 2020 prägten ihre Kanzlerschaft.

Auch Fragen zur Zugehörigkeit des Islams und der Muslim:innen zu Deutschland und die Debatte um das muslimische Kopftuch lösten immer wieder politische Debatten aus. Wie steht es um die Rechte der muslimischen Minorität Deutschlands mit 5,5 Millionen Menschen (Statista 2020), die laut BAMF 6,7 % der Gesellschaft ausmachen?

Zwischen November 2005 und September 2021 regierte Bundeskanzlerin Angela Merkel Deutschland. Neben vielen populistischen Politiker:innen wie z.B. Donald Trump, Marine Le Pen und Geert Wilders sowie dem weltweit wachsenden Populismus blieb Merkels innenpolitische Politik in Bezug auf ethnische und religiöse Minoritäten häufig „unhinterfragt“.

Denn im Gegensatz zum „Muslim Ban“ unter Trump in den USA hieß es in Deutschland zu Merkels Amtszeit „Wir schaffen das“ und „Der Islam gehört zu Deutschland“.
Dennoch blieben ganze Aspekte des NSU-Terrors auch nach dem Gerichtsverfahren 2018 unerforscht, es gab 2020 einen erneuten rechtsterroristischen Anschlag in Hanau mit vielen offenen Fragen, populistische Tendenzen nahmen zu und rassistische Äußerungen wurden salonfähiger. Der wachsende Rechtsextremismus, Angriffe auf muslimische Glaubenseinrichtungen und Muslim:innen, strukturelle Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Verbote von religiösen Symbolen im öffentlichen Dienst sind Themen, die Deutschland auch nach der Amtszeit von Kanzlerin Merkel beschäftigen werden.

Regierungsprogramme der CDU/CSU der Jahre 2005 und 2021 im Vergleich

Ein Vergleich der Regierungsprogramme der CDU/CSU aus den Jahren 2005 und 2021 zeigt, dass in puncto Minoritäten sowie Islam und Muslim:innen eine Veränderung stattgefunden hat.

Im Parteiprogramm 2005 heißt es unter Punkt 5.5 „Zuwanderung begrenzen, Integration stärken“ in Bezug auf Muslim:innen: „Wir werden die Menschenrechte der in Deutschland lebenden Mädchen und Frauen aus dem muslimischen Kulturkreis aktiv fördern und schützen. Die Zwangsverheiratung ist verboten. Die Nötigung zur Zwangsheirat wird ein eigener Straftatbestand.“

Weiterhin werden zahlreiche strukturelle Probleme einseitig und monokausal dargestellt, sodass „viele Migrantenkinder ohne schulischen Abschluss, Ghettobildung und eine Entwicklung von Parallelgesellschaften und eine häufig selbst gewählte Abgrenzung ausländischer Jugendlicher von der deutschen Gesellschaft Alarmsignale für den sozialen Frieden im Land“ seien. So gut wie alle stereotypisierenden Ressentiments in Bezug auf „Migrant:innen“ sind in dem Absatz vorhanden: „Zwangsehe, Parallelgesellschaften, Arbeitslosigkeit, sprachliche Defizite.“

Wandel des politischen Narrativs

Sowohl Tenor und Rhetorik im Regierungsprogramm 2005 als auch die Aussage der Kanzlerin aus dem Jahr 2010 über die „multikulturelle Gesellschaft“, die „(..)gescheitert, absolut gescheitert“ sei, zeigen, dass Themen wie Multikulturalität und religiöse Vielfalt in Deutschland einem Prozess in der Politik unterliegen. Denn der Aussage des Innenministers Horst Seehofer (CSU): „Nein. Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ widersprach Kanzlerin Angela Merkel 2018 folgendermaßen: „Es steht völlig außer Frage, dass die historische Prägung unseres Landes christlich und jüdisch ist. Doch so richtig das ist, so richtig ist es auch, dass mit den 4,5 Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist“ – eine wirkmächtige Aussage, insbesondere für Muslim:innen in Deutschland, die zugleich als ein positiver Wandel des politischen Narrativs festgehalten werden kann.

Sätze wie „Wir wollen, dass Ausländer, die rechtmäßig und dauerhaft bei uns sind, integriert in unserer Gesellschaft auf der Grundlage unserer Kultur und Rechtsordnung leben. Integration ist aber keine Einbahnstraße“ (Regierungsprogramm 2005, S.34) werden in der Gesellschaft spätestens seit der „Me-two“-Debatte aus dem Sommer 2018 nicht mehr kommentarlos hingenommen.

Im aktuellen Regierungsprogramm wird im Punkt „Integration als Fundament des Miteinanders“ (S.135) nicht mehr von „Ausländern“, sondern von „Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“ gesprochen, die „in allen Bereichen teilhaben können“.

Während die Verantwortung für eine „gelungene Integration“ im Regierungsprogramm 2005 bei den Eltern liegt: „Ausländische Eltern müssen alles dafür tun, dass ihre Kinder Anteil an den Lebens- und Arbeitschancen unseres Landes haben“ (S.34), wird diese Verantwortung 2021 als gesellschaftliche und politische Aufgabe verstanden: „(..) Ihre Integration ist auch die Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Integration besteht für uns aus Fördern und Fordern“. (S.134)

Eine konkrete Aussage zum antimuslimischen Rassismus findet sich im Regierungsprogramm 2021: „Islamfeindlichkeit werden wir in unserem Land ebenso wenig tolerieren wie Antiziganismus und andere rassistisch motivierte Abwertungen von Gruppen. Diese Form des Hasses, die geistige Brandstifter verbreiten wollen, richtet sich gegen uns alle und gegen das, was uns zusammenhält. Wir werden sie mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen und nicht zulassen, dass unser Land dadurch bedroht wird.“ (S.113)

Auch heißt es in dem Kapitel: „Chancen von Migrant:innen verbessern“, und dass es „Chancengerechtigkeit in der gesamten Gesellschaft geben soll, in der Wirtschaft, in der Bildung und auch im öffentlichen Dienst. Wir werben dafür, dass sich mehr junge Menschen für eine berufliche Laufbahn im öffentlichen Dienst entscheiden. Dies stärkt auch die Identifikation von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte mit unserem Staat.“ (S.134)

Paradoxon: Verbote und Inklusion

An dieser Stelle bleibt die Frage offen, wie sich „mehr junge Menschen für eine berufliche Laufbahn im öffentlichen Dienst entscheiden“ sollen, wenn dies qua Gesetz verhindert wird.

Seit dem Fall der Lehrerin Fereshta Ludin, die 1998 Berufsverbot aufgrund ihres Kopftuchs bekam, erließen mehrere Bundesländer „Kopftuchgesetze“, bis das Bundesverfassungsgericht Karlsruhe 2015 ein pauschales Kopftuchverbot an Schulen für verfassungswidrig erklärte.

Im April 2021 beschloss der Bundestag ein neues Gesetz zum „äußeren Erscheinungsbild von Beamt:innen und Polizist:innen“. Anlass für die neue Regelung war der Fall eines Berliner Polizisten mit verfassungsfeindlichem Tattoo, doch das neue Gesetz enthält eine Erweiterung: Neben Tattoos, Piercings, Bärten und Körperschmuck bei Beamt:innen wird auf religiöse Symbole verwiesen.

Einen Monat zuvor, im März 2021, hatte der NRW-Landtag ein Verbot von religiösen Symbolen beschlossen wie z.B. das Tragen eines Kopftuchs oder eines Kreuzes oder einer Kippa, wovon Richter:innen, Staatsanwält:innen und Justizbeschäftigte betroffen sind.

Es kann festgehalten werden, dass die Frage über die Religionsfreiheit und die Lebensgestaltung von kopftuchtragenden Musliminnen im öffentlichen Dienst auch nach der Merkel-Ära offenbleibt. Denn es zeigt sich, dass viele „ausländische Eltern“ alles dafür getan haben, „dass ihre Kinder Anteil an den Lebens- und Arbeitschancen unseres Landes haben“ (Regierungsprogramm CDU/CSU 2005) – sofern sie von der Politik und mit der Gesetzeslage nicht daran gehindert werden.

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