25.08.2021, Berlin: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verlässt das Rednerpult bei der Sondersitzung des Bundestags nach ihrer Regierungserklärung zur Lage in Afghanistan. (dpa)
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„Debakel“, „Desaster“, „Katastrophe“, „Niederlage“, „Zäsur“, „Planlosigkeit“, „Chaos“, „Tragödie“, „Kollaps“, „Zusammenbruch“, „Drama“, „Kapitulation“, „Bankrott“: Mit diesen Worten wird die derzeitige Lage in Afghanistan in der deutschen und internationalen Presse umschrieben. Und wir blicken meist fassungslos auf die chaotische Situation, die sich derzeit am Hindukusch abspielt. Aber wie konnte es so weit kommen?

„Uneingeschränkte Solidarität“

Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 entschloss sich der damalige US-Präsident George W. Bush, in Afghanistan einzumarschieren. Er versprach einen „Kreuzzug“ gegen die Terrororganisation Al-Qaida und die Taliban, die den Terroristen in Afghanistan Unterschlupf gewährten. Bereits am 12. September 2001, also einen Tag nach den Anschlägen in New York und Washington, verkündete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, er habe dem amerikanischen Präsidenten die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands zugesichert. Gerhard Schröder sah sich gezwungen, seinen transatlantischen Verpflichtungen nachzukommen, und wollte zudem die außenpolitische Isolation des Landes verhindern. Im späteren Irak-Krieg hingegen zog der Kanzler nicht mit.

Die Auslandsmandate der Bundeswehr

Nur einen Tag nach den Terrorattacken verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1368 (2001), welche die Anschläge von 9/11 als „bewaffneten Angriff auf die Vereinigten Staaten sowie als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit“ wertete. Sodann stimmte der Bundestag am 16. November 2001 über den rot-grünen Antrag in Bezug auf den „Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA“ ab. Kanzler Schröder verknüpfte mit dem auch innerhalb seiner Koalition höchst umstrittenen Votum die Vertrauensfrage. Für die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA ging der Bundeskanzler folglich volles Risiko: Er war bereit, für den Militäreinsatz seine Regentschaft aufs Spiel zu setzen. So wurde der Antrag zur „Operation Enduring Freedom“ (OEF) unter dem Kommando der USA mit knapper Mehrheit angenommen. Nur knapp einen Monat später, am 22. Dezember, stimmte der Bundestag für den ISAF-Einsatz der Bundeswehr. Die zunächst auf nur sechs Monate befristete Mission wurde unzählige Male verlängert und endete erst nach fast 20 Jahren im Juli 2021. Im Mittelpunkt des Einsatzes standen die Unterstützung der staatlichen Organe in Afghanistan und der dort tätigen internationalen Organisationen sowie die Ausbildung der afghanischen Armee (ANA) und Polizei (ANP). Des Weiteren wurden technische und humanitäre Projekte wie der Bau von Schulen, Brunnen, Strommasten und Straßen vorangetrieben. Der Einsatz umfasste demzufolge auch Entwicklungshilfe. Dennoch war das ISAF-Mandat die teuerste und blutigste Auslandsmission der Bundeswehr. Die Kosten des Einsatzes haben den deutschen Steuerzahler geschätzt mehr als 18 Milliarden Euro gekostet, der Hauptteil, rund 12,5 Milliarden Euro, entfiel auf den Einsatz der Bundeswehr.

Export von Demokratie fehlgeschlagen

Um die Intervention in Afghanistan zu legitimieren, musste die deutsche Bevölkerung nach der umstrittenen NATO-Mission im Kosovo und Ex-Jugoslawien deutlich überzeugt werden. Dafür bot sich die Etablierung oder der Export von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Frauenrechten an. Das waren Ideale, für die es sich lohnte zu kämpfen und notfalls auch zu sterben. Die Durchsetzung demokratischer Normen schien in Afghanistan von Anfang an auf wackeligen Beinen. Im Nachhinein kann man resigniert feststellen, dass keines dieser hehren Ziele verwirklicht und somit zwei Jahrzehnte vergeudet wurden. Die Strukturen der afghanischen Gesellschaft systematisch zu analysieren, wurde versäumt. Denn wäre dies getan worden, wüsste man, dass sich scheinbar westliche Wertevorstellungen bei manchen Staaten nicht einfach von außen überziehen lassen, schon gar nicht militärisch. Das ist eine bittere Erkenntnis der jetzigen Situation, die auch auf eine tiefe Unkenntnis der afghanischen Gesellschaft hindeutet. Frustrierend kommt hinzu, dass 59 tapfere Soldaten für Grundideale wie Demokratie und Menschenrechte ihr Leben ließen. Nicht nur die Angehörigen der deutschen Soldaten, sondern auch die Öffentlichkeit fragt sich nun, wofür die Soldaten gestorben und ob sie vielleicht umsonst gefallen sind. Die angeblichen Werte des Westens, die am Hindukusch vorgelebt wurden, schienen für die Mehrheit der Afghanen nicht attraktiv genug gewesen zu sein.

Sicherheits- oder Wirtschaftsinteressen?

Der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck ist für seinen Satz bekannt, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt. Welche Interessen wurden in Afghanistan wirklich verteidigt? Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sah auch deutsche Wirtschaftsinteressen in Afghanistan gefährdet: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“ Aus dieser Einsicht Köhlers entbrannte eine heftige Debatte, in der er harten Angriffen ausgesetzt war und an deren Ende erstmals ein Bundespräsident zurücktrat. Das war ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Köhler wurde unter anderem die „Befürwortung von Wirtschaftskriegen“ vorgeworfen. Was in der Debatte oft untergeht: Sicherlich spielte auch die Vermeidung von Migrationsströmen in die Europäische Union eine mögliche Rolle beim Afghanistan-Engagement.

Die Fehler

Deutschland hat sich in Afghanistan wie viele andere Nationen verkalkuliert. Mehreren Hunderttausend Nato-Soldaten gelang es im Endeffekt nicht, Afghanistan in einer Zeitspanne von 20 Jahren zu stabilisieren. Die Taliban wurden nicht konsequent bekämpft. Der Respekt vor der moralisch überlegenen Miliz war zu groß auf deutscher Seite. Auch wenn es mehr Opfer bedeutet hätte, wäre ein entschlossenes Handeln wirksamer gewesen. Aufbau und Ausbildung der nationalen Armee und nationalen Polizei waren im Nachhinein ebenfalls unglücklich. Dieses Projekt, an dem Deutschland federführend beteiligt war, ist kläglich gescheitert. Die Armee hat sich kampflos zurückgezogen, sie wurde regelrecht überrannt und hat dazu ihr gesamtes Material den Taliban überlassen. Verantwortung auf deutscher Seite? Fehlanzeige. Die Kooperationen mit der korrupten Zentralregierung und den ebenso bestechlichen Regionalpolitikern und Warlords waren weitere Fehler Deutschlands. Hier wäre eine kritischere Distanz, die sich auf Bedingungen gestützt und somit eine Hebelwirkung besessen hätte, eine bessere Option gewesen. Darüber hinaus erfordern die falsche Einschätzung der Lage und die unkoordinierte Arbeitsweise der verantwortlichen Ministerien (Außenministerium, Verteidigungsministerium und Innenministerium) eine Neustrukturierung in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Heiko Maas nicht mehr tragbar

Auch der Bundesnachrichtendienst (BND) kommt nicht gut weg. Bundesaußenminister Heiko Maas macht die Behörde für seine eigenen Fehler verantwortlich. Die Ressortzuständigkeiten oder der Informationsaustausch müssen optimiert werden. Darin stimmen fast alle überein. Allerdings liegt die Verantwortung für die viel zu späte Evakuierung deutscher Staatsbürger und Ortskräfte aus Kabul hauptsächlich beim Bundesaußenminister und nicht beim deutschen Auslandsgeheimdienst. Schon im Juni hatten die Grünen im Bundestag den Antrag gestellt, Ortskräfte aus Afghanistan nach Deutschland zu holen. Union, SPD und AfD lehnten dies jedoch ab. Obwohl er bereits vorher aus der deutschen Botschaft über die bedrohliche Lage informiert wurde, besänftigte Heiko Maas noch im Juni, er gehe nicht davon aus, dass die Taliban in wenigen Wochen „das Zepter in der Hand“ hätten. Allerspätestens mit dem Abzug der Bundeswehr Ende Juni hätte Maas die Evakuierung einleiten müssen. Seine Unentschlossenheit setzt Menschenleben in Gefahr. Deutsche Soldaten müssen momentan die Fehler des Außenministers unter Einsatz ihres Lebens ausbaden. Besitzt Maas den Anstand und übernimmt er Verantwortung für dieses Desaster?

Mehr Eigenständigkeit

Außerdem fehlte es der Bundesrepublik an einer Exit-Strategie. Man war zu sehr von den USA abhängig. Als diese das Land verließen, brach alles wie ein Kartenhaus zusammen. Für die Zukunft bedeutet dies, dass die Bundesregierung eine eigenständige außen- und sicherheitspolitische Agenda haben muss. Eine weitere und umso wichtigere Erkenntnis aus der derzeitigen Lage ist die Tatsache, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Mächten nur sehr begrenzte Möglichkeiten auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik hat. Der erste Schritt einer Selbstanalyse ist es, seine Schwächen zu kennen. Deutschland könnte nun damit beginnen, diese zukünftig zu vermeiden.

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