Archivbild: Das ausgebrannte Haus in Mölln nach dem rechtsextremen Anschlag / Photo: DPA (dpa)
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Der Brandanschlag von Mölln war nicht der Anfang rassistischer Terrorattacken auf Menschen in Deutschland. Die tagelangen fremdenfeindlichen Ausschreitungen im September 1991 im sächsischen Hoyerswerda oder im August 1992 in Rostock‐Lichtenhagen waren noch in frischer Erinnerung, als die Gewalt gegen vermeintlich „Fremde“ erneut eskalierte.

Brandstifter meldeten sich mit Hitlergruß am Telefon

In der Nacht vom 22. November auf den 23. November 1992 setzten in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln der damals 19-jährige Neonazi Lars Christiansen sowie sein 25-jähriger Freund Michael Peters zwei Wohngebäude in der Ratzeburger Straße und der Mühlenstraße in Brand. Beide Häuser wurden von türkischen Familien bewohnt. In der Feuerhölle verloren insgesamt drei Mitglieder der Familien Arslan und Yılmaz ihr Leben, neun weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Zwei der drei ermordeten Türkinnen waren noch im Kindesalter: Die 10-jährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayşe Yılmaz. Zudem befand sich die 51 Jahre alte Bahide Arslan unter den Opfern des rassistischen Brandanschlags. Nach der bestialischen Tat wählte ein anonymer Anrufer den Notruf, um auf die Feuer hinzuweisen. Die Person beendete das Gespräch jeweils mit den Worten „Heil Hitler!“. Lars Christiansen und Michael Peters, die der Neonazi-Szene zugeordnet wurden, konnten wenige Tage nach ihrer feigen Tat festgenommen werden.

Frühzeitige Haftentlassung und neue Identitäten für die Täter

Knapp ein Jahr nach der hasserfüllten Attacke, am 8. November 1993, erklärte der II. Strafsenat am Oberlandesgericht Schleswig Christiansen und Peters des dreifachen Mordes, des 39-fachen Mordversuchs und der besonders schweren Brandstiftung für schuldig. Peters wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Christiansen erhielt, auch aufgrund seines Alters, zehn Jahre Jugendstrafe. Nach lediglich siebeneinhalb Jahren wurde er im Juni 2000 frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Der lebenslänglich verurteilte Peters kam nur sieben Jahre später, im November 2007, frei. Die Täter wurden mit neuen Identitäten ausgestattet und leben heute unter uns.

Asylrechtsdebatte beschleunigte Hass und Rassismus

Der mörderischen Tat ging eine lange Asylrechtsdebatte in Politik und Öffentlichkeit voraus, die von rassistischen Stereotypen durchsetzt war. Dieser Diskurs veranlasste die Politik am 26. Mai 1993 zu einer restriktiven Einschränkung des Asylrechts, dem sogenannten „Asylkompromiss“. „521 Abgeordnete aus den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP sowie der oppositionellen SPD stimmten dafür, 132 dagegen. Damit war die erforderliche Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundgesetzes erreicht. Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 hatte bis dahin mit der knappen Formel ‚Politisch Verfolgte genießen Asylrecht‘ ein individuelles Recht auf Schutz festgeschrieben. 1993 wurde er zwar nicht gestrichen, aber um umfangreiche Ausführungen ergänzt, die das Asylrecht erheblich einschränkten“, erklärt der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Seitdem habe in aller Regel kaum jemand mehr eine Chance auf Asyl, wer aus „verfolgungsfreien“ Ländern bzw. „sicheren Herkunftsländern“ stamme oder über sogenannte „sichere Drittstaaten“ in die Bundesrepublik einreise, von denen Deutschland ja praktisch lückenlos umgeben ist. Die Asylrechtsdebatte in den frühen 90ern diente sozusagen als Brandbeschleuniger für Hass und Rassismus.

Rassismus als Mordmotiv: 219 Menschen seit der Wiedervereinigung getötet

Der schmerzliche Verlust von Bahide und Yeliz Arslan sowie Ayşe Yılmaz, die vor 30 Jahren ermordet wurden, ist immer noch in Erinnerung und darf niemals in Vergessenheit geraten. Dieser bestialische, türkenfeindliche Terroranschlag ging als ein Tag der Schande in die Geschichte ein. Die Frage, ob aus den Massakern von Mölln und Solingen, dem NSU-Terror oder den Anschlägen von Halle und Hanau genügend Lehren gezogen wurden, ist bis heute nicht endgültig beantwortet. 2020 ermordete ein rassistischer Terrorist in Hanau neun Menschen mit Einwanderungsgeschichte, darunter vier türkischstämmige Staatsbürger. Zwischen 1984 bis zum rassistischen Terroranschlag in Hanau kamen allein 31 türkischstämmige Bürger bei rassistischen Terroranschlägen in Deutschland ums Leben. Zudem sind nach Angaben der Amadeu Antonio Stiftung seit der Wiedervereinigung 1990 insgesamt 219 Menschen in Deutschland aufgrund rassistischer Motive getötet worden. 16 weitere Verdachtsfälle sind noch nicht endgültig geklärt. Offiziell anerkannt sind bislang allerdings nur 85 Fälle. Einerseits verlieren Menschen ihr Leben, andererseits werden fast wöchentlich Anschläge auf Moscheen, Cem-Häuser (alevitische Gemeindehäuser), Synagogen und türkische Vereine verübt.

Übergriffe auf Moscheen und Muslime

Das Bundesinnenministerium (BMI) listet 694 politisch motivierte Angriffe gegen muslimische Gebetsräume und Moscheen von 2010 bis Februar 2021 auf. 2020 erfasste das BMI bundesweit 1.026 islamfeindliche Straftaten. 103 Angriffe richteten sich dabei allein gegen Moscheen, darunter vor allem Sachbeschädigungen und Volksverhetzungen. 2021 gab es in Deutschland 662 Übergriffe und Anschläge auf Muslime und Moscheen. Bei den Tätern handelt es sich überwiegend um Rechtsradikale und Extremisten der Terrororganisation PKK. Zu den erfassten Straftaten zählen unter anderem Hetze im Internet, Drohbriefe und persönliche Angriffe, aber auch Sachbeschädigung und Schmierereien. 2021 registrierten die Behörden 54 Anschläge, Schmierereien und Schändungen auf bzw. von Moscheen oder Friedhöfen. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen, da erfahrungsgemäß etliche Nachmeldungen dazukommen und ein Großteil der Übergriffe von Betroffenen aus Scham oder Scheu vor den Behörden gar nicht erst zur Anzeige gebracht wird. 2020 wurden 901 islamfeindliche Taten registriert.

Warum wird Rassismus zu einem Problem der Mitte?

Die rassistischen Verbrechen haben in den 90er Jahren nicht Halt gemacht. Sie sind kein Phänomen des vorigen Jahrhunderts oder Jahrtausends geblieben. Sie erstrecken sich wie eine rote Linie bis in die Gegenwart hinein. Schlimmer noch: Die Menschenfeindlichkeit, die in der jungen Bundesrepublik eher an den extremen Rändern zu verorten war, hat sich heute bis in die Mitte der Gesellschaft ausgebreitet. Die Zunahme der Gewaltbereitschaft und des Hasses in der Gesellschaft, der Anstieg von Brandstiftungen auf Gotteshäuser, Vereinslokale und Flüchtlingsunterkünfte, gepaart mit der Manifestation rassistischer Denkweisen in Parteien und öffentlichen Diskursen, sind ein Alarmsignal für die Zukunft. Wieso ist die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten nicht signifikant vorangekommen in der Fragen Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Rassismus und Xenophobie? Welche festgefahrenen Strukturen hindern die Politik daran, Reformen durchzusetzen? Sind die jahrzehntelangen Anstrengungen in der Antirassismusarbeit, unzählige Projekte sowie Bildungs- und Aufklärungsmaßnahmen umsonst gewesen? Diese Fragen harren einer kritischen und offenen Antwort.

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