16.08.2021, Afghanistan, Kabul: Mitglieder der Taliban gehen durch Kabul. (dpa)
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Die Taliban werden wohl auch künftig militärisch die Oberhand im Land behalten, aber sie sind weit davon entfernt, das ganze Land mit der Bildung einer inklusiven und gerechten Regierung zu führen, wie sie es in den letzten Tagen versprochen haben. Denn was sich vor Ort abspielt und die Ankündigung eines neuerlichen Widerstands, der wohl wieder aus Pandschir ausgehen soll, weisen darauf hin, dass ein weiterer Bürgerkrieg bevorsteht.

Im ersten Quartal 2020 wurden verschiedene Szenarien zur Situation in Afghanistan aufgestellt, die darauf abzielten, Prognosen für die nächsten zwei bis drei Jahre abzugeben. Die Kontextrecherche mit besonderem Fokus auf die Wirtschaft bis hin zur politischen und Sicherheitslage des Landes hat einen Monat in Anspruch genommen. Zu dieser Zeit hatten sich die USA mit den Taliban in Katar auf ein Rückzugsabkommen verständigt, während gleichzeitig im Land selbst mittels einer politischen Einigung zwischen Dr. Abdullah Abdullah und Präsident Ashraf Ghani eine neue Koalitionsregierung gebildet wurde. Dabei erwiesen sich die Szenarien als richtig, wobei der zeitliche Ablauf alle überraschte, einschließlich der Taliban selbst.

Eine besondere Herausforderung vor den Friedensgesprächen stellten die Meinungsunterschiede zwischen den regierungsbildenden Blöcken dar. Dr. Abdullah, der eine Hälfte der Regierung vertritt, war offen für alle Arten einer Übergangszeit im Falle eines Friedensabkommens und auch bereit, über die Form des neuen Regimes zu diskutieren. Dagegen stellte für Präsident Ghani das Präsidialsystem die „rote Linie“ dar, dessen Änderung nur über etablierte Mechanismen wie Wahlen herbeizuführen sei. Als weitere Herausforderungen sind der überstürzte Abzug der US-Streitkräfte, die Schwäche der afghanischen Sicherheitskräfte, die grassierende Korruption und die schlechte Regierungsführung der letzten zwei Jahrzehnte zu nennen.

Auch erwies sich die Annahme, dass die Taliban in Doha nicht über ausreichende Autorität und Kontrolle über ihre lokalen Kommandeure und Kämpfer im Land selbst haben, als richtig. Diese Schlussfolgerung basierte auf der Tatsache, dass das Taliban-System auf lokaler Ebene unabhängig und autonom von Doha und der Shura in Quetta agiert. Zum Beispiel war es den lokalen Kommandeuren in den Provinzen freigestellt, ihre Steuern überall zu erheben, unterschiedliche Einnahmequellen zu erschließen und die Mittel auf lokaler Ebene ohne weitergehende Erlaubnis der Schura in Quetta zu verwenden. Diese lokalen Kommandeure konnten zudem Kämpfer aus den Dörfern und Bezirken der Provinzen rekrutieren, wiederum ohne die Erlaubnis der Ältesten einholen zu müssen.

Szenario I

Selbst dieses optimistischste Szenario war an sich nicht erfolgversprechend und berücksichtigte verschiedene Herausforderungen. Das Szenario hieß „Alles läuft nach Plan“, mit gravierenden Auswirkungen auf das ganze Land und einer Wahrscheinlichkeit von 30 %. Die USA und die Taliban hatten nach einer siebentägigen Reduzierung der Gewalt ein Rückzugsabkommen unterzeichnet, das es den USA ermöglichte, die Zahl ihrer Soldaten in Afghanistan innerhalb von 5 Monaten von 12000 auf 4000 zu reduzieren, einen Monat früher als ursprünglich vorgesehen. Die anderen Haupterwartungen erfüllten sich jedoch nicht, da die Gespräche am Friedenstisch mit langen Abständen fortgesetzt wurden und man sich bisher auf nichts einigen konnte. Selbst wenn das Szenario durch ein Friedensabkommen zwischen den Taliban und der Regierung zustande kommen sollte, blieben viele Fragen offen, etwa über das Wesen des neuen Regimes und die Machtaufteilung.

Szenario II

Das zweite Szenario, das die Entwicklung zu einem fragilen Staat vorsah, war aufgrund der volatilen politischen und sicherheitspolitischen Lage sehr wahrscheinlich. Die geringe Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen 2019 deutete darauf hin, dass in zunehmenden Maße Bedrohungen auch von Verbündeten innerhalb der Befürworter der Republik drohten. Eine geschwächte Zentralregierung und Regionen, die von anderen politischen Gruppierungen kontrolliert und geführt werden, erschwerten es zudem, beim Friedensprozess wie erhofft voranzukommen. Im Rahmen dieses Szenarios würde es für die Zentralregierung sehr schwierig sein, den Verlauf der Ereignisse in den Regionen zu kontrollieren. Dies haben wir in den letzten Monaten erlebt.

Szenario III

Und schließlich war das Szenario des „gescheiterten Staates“ das am wenigsten erwünschte, aber doch dasjenige, das wir aufgrund des Versagens der afghanischen und der US-amerikanischen Regierung seit einigen Wochen erleben. Die Taliban konnten in nur wenigen Monaten mehrere Hundert Distrikte überrennen und ohne großen Widerstand in nur 10 Tagen 33 von 34 Provinzen erobern. Derzeit kontrollieren die Taliban über 95 % des Landes militärisch, Präsident Ghani ist in die Vereinigten Arabischen Emirate geflohen, und sein erster Vizepräsident erklärte sich zum Verantwortlichen von Pandschir, einer Provinz nur wenige Stunden von der Hauptstadt entfernt.

Das Schlimmste steht noch bevor

Bevor wir zum Schluss kommen, gebietet es die Fairness zu konstatieren, dass wir in der gegenwärtigen Situation noch nicht einmal von einem gescheiterten Staat sprechen können, da wir derzeit noch nicht einmal einen Staat oder eine etablierte Regierung haben. Zwar riefen die Taliban eine nationale Amnestie aus und versprachen, dass es keine Hexenjagd geben werde, dennoch töteten sie Demonstranten mit afghanischen Flaggen und erhängten Ex-Militärangehörige in Kandahar, und es gibt auch Berichte über Razzien in Kabul. Die Tatsache, dass der Sohn des verstorbenen Ahmad Shah Massoud aus seiner Heimatstadt Pandschir einen zweiten Widerstand gegen die Taliban erklärte und andere Fraktionen aufforderte, sich ihm anzuschließen, deutet darauf hin, dass die Taliban wohl im Norden, nicht etwa in Kabul oder im Süden auf Widerstand stoßen. Somit droht dem Land ein weiterer Bürgerkrieg, falls andere Führer wie Ata Mohammad Noor und Marschall Dostum das Land betreten und sich dem Widerstand anschließen. Letzteres Argument ist auch für andere Szenarien wie etwa „das Zentrum gegen die Peripherien“ oder „Paschtunen gegen andere Minderheiten einschließlich der Türken, Hazaras und Tadschiken“ relevant und wird die Grundlage weiterer Kommentare bilden.

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