28.01.2022, Brandenburg, Brandenburg/Havel: Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, wartet auf den Beginn der Verhandlung gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann. Anlass für seine Anwesenheit ist ein Gutachten über die Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus, welches für das Verfahren erstellt wurde. (dpa)
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Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, sieht den NS-Prozess gegen einen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen als Beitrag zur Aufarbeitung von Schuld und Geschichte. „Es geht nicht darum, einen alten Mann ins Gefängnis zu bringen“, sagte Rose am 22. Verhandlungstag am Freitag in Brandenburg an der Havel: „Es geht darum, die Schuld festzustellen.“ Das Ziel sei nicht, Rache zu üben. Der 101-jährige Angeklagte Josef S. müsse jedoch „seine Schuld hier offenlegen“. Die Staatsanwaltschaft wirft S. Beihilfe zum Mord in mindestens 3518 Fällen vor. (AZ: 11 Ks 4/21)

Rose: Justiz hatte kaum Interesse an Strafverfolgung

Es sei ein Versäumnis der deutschen Justiz, dass nur wenige an den NS-Verbrechen Beteiligte vor Gericht gestellt wurden, betonte der Zentralratsvorsitzende. „Man hätte die Wachleute eigentlich schon früher anklagen müssen“, sagte Rose. Sie seien die Ursache dafür gewesen, dass Menschen im KZ hinter Stacheldraht festgehalten wurden,
dort gelitten haben und ermordet wurden. Täter im Dienst der Justiz hätten jedoch nach 1945 kaum Interesse an Strafverfolgung gehabt. Dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma fielen bis zu 500.000 Menschen zum Opfer.

Sinti und Roma seien nach 1945 zum Teil mit den gleichen Polizeibeamten konfrontiert gewesen wie davor, sagte Anwalt Mehmet Daimagüler. Der Jurist vertritt in dem Prozess eine Frau als Nebenklägerin, deren Vater 1943 im KZ Sachsenhausen als Angehöriger
der Sinti-Minderheit ermordet wurde. Der Angeklagte war Ermittlungen und Gutachten zufolge zwischen dem 23. Oktober 1941 und dem 18. Februar 1945 Wachmann in Sachsenhausen.

In dieser Zeit habe Josef S. zugleich als kriegsverwendungsfähig gegolten und damit kontinuierlich die Möglichkeit gehabt, seinen Dienst im KZ zu beenden und sich zu einer Feldeinheit der Waffen-SS versetzen zu lassen, sagte der historische Gutachter Stefan Hördler am Freitag. Selbst SS-Führungskräfte hätten dies getan und sich
freiwillig zur Front gemeldet, vor allem nach Beginn der Massentötungen in den Konzentrationslagern. Spätestens im September 1944 sei allen Versetzungsgesuchen stattgegeben worden. Von Josef S. sei kein Versetzungsgesuch bekannt.

200.000 Menschen im KZ-Sachsenhausen inhaftiert gewesen

Es hätten auch weitere Versetzungsmöglichkeiten zu anderen SS-Dienststellen wie SS-Kraftfahrschulen bestanden, sagte Hördler. Auch Entlassungen aus den Wachbataillonen in zivile Berufe seien möglich gewesen. Der Historiker präsentierte am Freitag auch ein
Dokument vom 16. Februar 1945, das schließlich die Versetzung von Josef S. und weiteren Wachleuten des KZ Sachsenhausen zum Truppenübungsplatz Kurmark bei Lieberose festhält. Hintergrund sei ein Sonderbefehl zur Versetzung zahlreicher Wachmannschaften an die Front gewesen, sagte Hördler. Am 18. Februar 1945 seien die Tötungsaktionen in Sachsenhausen beendet worden.

Der in Litauen geborene S., der nach dem Zweiten Weltkrieg und nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft in der DDR gelebt hat, bestreitet bislang, Wachmann in Sachsenhausen gewesen zu sein. In dem KZ waren von 1936 bis 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Zehntausende von ihnen wurden ermordet oder kamen auf andere Weise ums Leben.

epd