Junge Unternehmerin aus dem Irak bereitet Mahlzeiten zu. (AP)
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von Till C. Waldauer

Im Dezember hat Polen unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise entlang seiner Grenze zu Belarus mit dem Bau einer knapp 200 Kilometer langen Grenzbefestigung begonnen, die Kosten von insgesamt etwa 260 Millionen Euro verschlingen wird.

Es ist nicht das einzige Land in der EU, das erhebliche Mittel in den Ausbau der Infrastruktur zur Abwehr von Migration investiert. Wie die saudi-arabische Medienplattform „Arab News“ analysiert, war die Zahl der Mauern entlang der Außengrenzen der EU seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bereits 2017 von zwei auf 15 gestiegen – auf einer Gesamtlänge, die dem Sechsfachen der ehemaligen Berliner Mauer entspreche.

Zuletzt hatten Ungarn, Slowenien, Bulgarien, Spanien und Frankreich sowie der Nicht-EU-Mitgliedstaat Mazedonien einen Ausbau der Grenzbefestigungen angekündigt. Griechenland ist wiederum seit längerem dafür bekannt, Abschreckung durch möglichst mangelhafte Unterbringung zu betreiben und sich bei Bedarf unerwünschter Migranten auch durch Pushbacks zu entledigen.

Syrische Journalistin: „Gefährliches Narrativ“ richtet sich gegen Migranten

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben europäische Staaten eine Reihe von Abkommen unterzeichnet, die dem Anliegen des Schutzes der Rechte Geflüchteter und Schutzsuchender gewidmet waren – unter anderem die UN-Flüchtlingskonvention von 1951, das Protokoll über den Status von Flüchtlingen von 1967 und das Europäische Abkommen über den Übergang der Verantwortlichkeiten für Flüchtlinge von 1980.

Ungeachtet dessen hat sich die kurze Phase der Willkommenspolitik von 2015 in der EU mittlerweile in ihr Gegenteil verkehrt und europäische Politiker beginnen im Einklang mit auflagenstarken Medien, zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Migranten zu unterscheiden.

„Das ist ein gefährliches Narrativ“, erklärt Wafa Mustafa gegenüber Arab News. Die syrische Journalistin lebt als Geflüchtete in Deutschland. Ihr Vater ist 2013 vom Assad-Regime gefangen genommen worden und gilt seit heute als verschollen. „Es ist zumindest entmenschlichend. Wir können nicht über Flüchtlinge reden, ohne über die Gründe zu reden, weshalb sie zu solchen geworden sind.“

Man müsse die Flüchtlinge „als Menschen sehen, ihre Geschichten anhören und ihnen helfen, die Gründe zu bewältigen, warum sie nach Europa kommen mussten“.

Weltweit etwa 26,6 Millionen Menschen auf der Flucht

Die Klagen vor allem rechtspopulistischer europäischer Politiker und Medien über eine Überforderung Europas oder Verschwörungstheorien über einen „Großen Austausch“ scheinen zudem, wie Arab News analysiert, sachlich substanzarm zu sein – zumindest, wenn man auf die jüngst publizierten Zahlen internationaler Organisationen und der EU selbst bezüglich der Entwicklung von Fluchtbewegungen und Asylsuchenden blickt.

Dem UNO-Flüchtlingswerk UNHCR zufolge waren Mitte des Jahres 2021 weltweit etwa 26,6 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung, Konflikten oder Naturkatastrophen. Noch nicht berücksichtigt sind dabei die Auswirkungen der Ereignisse vom August des Vorjahres in Afghanistan, wo die Taliban landesweit die Macht erobert hatten.

Aber auch hier ist keine nicht mehr zu bewältigende Entwicklung zu befürchten. In Deutschland kamen dem BAMF zufolge in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 insgesamt 15.405 Erstanträge auf Asyl von afghanischen Staatsangehörigen. Das ist zwar mit 138 Prozent das größte prozentuale Plus unter allen Herkunftsländern. Allerdings hatten sich die meisten afghanischen Asylsuchenden bereits lange vor den Ereignissen vom August 2021 in Europa befunden.

Bereits im Jahr 2020 waren 2,6 Millionen Menschen aus Afghanistan auf der Flucht außerhalb ihres Herkunftslandes. Mehr als die Hälfte von ihnen, nämlich 1,44 Millionen, hat im Nachbarland Pakistan Zuflucht gefunden, weitere 780.000 kamen im ebenfalls benachbarten Iran unter. In Deutschland lebte zu diesem Zeitpunkt ca. 148.000 afghanische Asylsuchende und in Österreich 40.000.

Zahl der syrischen Asylsuchenden stagniert

Insgesamt betrug die Anzahl aller Asylsuchender in der EU bei der letzten Erhebung im Jahr 2020 etwa 2,65 Millionen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 447 Millionen entspricht dies einem Anteil von knapp 0,6 Prozent. Zum Vergleich: In der Türkei beläuft sich der Anteil von Flüchtlingen an der Gesamtbevölkerung auf knapp 4,3 Prozent, in den deutlich weniger einwohnerstarken Ländern Libanon und Jordanien sind es 13 bzw. sogar 30 Prozent.

Zudem ist insbesondere die Zahl vom UN-Flüchtlingswerk UNHCR registrierter syrischer Flüchtlinge außerhalb Syriens – derzeit seien dies 6,6 Millionen – in allen Hauptzielländern stagnierend bis rückläufig. Im Jahr 2020 hielten sich 3.574.836 in der Türkei auf, 975.567 in der EU, 884.266 im Libanon, 657.960 in Jordanien, 245.421 im Irak und 130.042 in Ägypten.

In den meisten der genannten Länder ist diese Zahl bereits seit der ersten Hälfte der 2010er Jahre nicht mehr angestiegen, in der Türkei und der EU flachte die Kurve im Laufe der vergangenen Jahre ab.

In der EU kamen im Jahr 2020 den Zahlen der Europäischen Kommission und Eurostat zufolge noch etwa 63.000 Erstanträge auf Asyl von syrischen Staatsangehörigen, etwas mehr als 44.000 von Afghanen, auf den Plätzen 3 und 4 folgten mit Venezuela und Kolumbien bereits zwei lateinamerikanische Herkunftsländer mit jeweils etwa 30.000 Asylsuchenden.

Einwanderer bleiben nicht untätig

Der 2015 aus Homs nach Griechenland gekommene nunmehrige Profifotograf Abdulazez Dukhan wies gegenüber Arab News darauf hin, dass Geflüchtete nicht mit dem Ziel in ein anderes Land kämen, dort untätig zu bleiben. Sie brächten vielmehr wertvolle Potenziale mit:

„Diejenigen, die hierher kommen, haben Berufserfahrung, Abschlüsse und waren wichtige Mitglieder ihrer früheren Gemeinschaften, und sie wollen das Gleiche in ihrer neuen Heimat tun. Auch wenn ihre Abschlüsse in dem neuen Land vielleicht nichts bedeuten, werden viele nicht untätig herumsitzen. Sie werden aufstehen, studieren, Gelegenheitsjobs annehmen und vieles mehr.“

Der Internationale Währungsfonds (IWF) bestätigt diese Einschätzung in einem Arbeitspapier aus dem Jahr 2021 mit dem Titel „The Impact of International Migration on Inclusive Growth“ (Die Auswirkungen der internationalen Migration auf integratives Wachstum). Darin werden einige der längerfristigen Vorteile der Aufnahme von Einwanderern beschrieben.

„Die internationale Migration ist sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für die Zielländer“, schreiben die Autoren. „Einerseits können Einwanderer, vor allem kurzfristig, Herausforderungen auf den lokalen Arbeitsmärkten schaffen, indem sie möglicherweise die Löhne beeinflussen und einige einheimische Arbeitskräfte verdrängen, die mit ihnen konkurrieren. Ihre Ankunft kann auch kurzfristige fiskalische Kosten mit sich bringen.“

Mehr Unternehmensgründungen und ausgewogenere Alterspyramide

In dem Bericht heißt es jedoch auch, dass „Einwanderer vor allem mittel- und langfristig die Produktion ankurbeln, neue Möglichkeiten für lokale Unternehmen und einheimische Arbeitnehmer schaffen, die für das Wachstum erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten bereitstellen, neue Ideen hervorbringen, den internationalen Handel anregen und zu einem langfristigen Haushaltsgleichgewicht beitragen können, indem sie die Altersverteilung in den fortgeschrittenen Ländern ausgewogener gestalten.“

Erst am Donnerstag hatte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitgeteilt, dass die Bevölkerungszahl in Deutschland Schätzungen zufolge bereits das zweite Jahr hintereinander stagniert. So lebten Ende 2021 wie bereits im Jahr zuvor etwa 83,2 Millionen Menschen in Deutschland. Die Zahl der Sterbefälle im vergangenen Jahr lag demnach deutlich über der Anzahl der Neugeborenen. Die Lücke zwischen den Geburten und Sterbefällen konnte „allerdings durch die gestiegene Nettozuwanderung geschlossen werden“, hieß es unter Berufung auf die vorläufigen Zahlen.

Mehr zum Thema: Deutschland: Bevölkerungszahl konstant bei 83,2 Millionen

TRT Deutsch und Agenturen