Es war wie jeder andere Tag im Leben der Familie Malalha aus dem Dorf Bazariya in der Nähe von Nablus im besetzten Westjordanland. Aber ein paar Augenblicke sollten alles verändern.
Am 23. Juni fuhr Akram Malalha mit seinem fünfjährigen Sohn Khaled zum Markt. Als sie durch die Straßen der Stadt gingen, hörten sie laute Schüsse in der Nähe eines der Dorfzugänge – es kam zu anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern und der israelischen Armee. Akram bemerkte zunächst nicht, dass sein kleiner Junge auf dem Rücksitz von einem israelischen Gummigeschoss am Auge getroffen worden war. Erst als Khaled anfing, laut zu schreien, merkte der Vater, was passiert war. Das Gesicht seines kleinen Jungen war blutüberströmt.
„Es war eine schreckliche Szene. Khaleds Gesicht und Kleidung waren blutüberströmt. Ich wusste nicht, dass eine Kugel sein Auge getroffen hat. Ich stoppte zügig das Auto und sprang auf den Rücksitz, um ihn zu beruhigen. Da sah ich ein großes Loch im zersplitterten Fenster und wusste dann, dass mein Kind von israelischen Kugeln getroffen worden war“, erzählt Akram im Gespräch mit TRT World.
Die nächsten Stunden vergingen für die Familie und den kleinen Jungen qualvoll. Sie brachten ihn zu einem nahegelegenen medizinischen Zentrum und dann zum An-Najah-Krankenhaus in Nablus. Dort sagten ihm die Ärzte, dass sie nicht über die nötigen Kapazitäten verfügten, um das schwer geschädigte Auge zu behandeln. Bei Anbruch der Nacht wurde das verletzte Kind schließlich in das Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem gebracht. Die Ärzte teilten den schockierten Eltern mit, dass sie beschlossen hatten, sein Auge zu entfernen. Es gab keine Chance mehr, es zu retten.
„Wir waren wie Ertrinkende, die sich an jedem Hoffnungsschimmer festkrallten. Wir trösteten uns gegenseitig und überlegten uns, was wir tun könnten, damit Khaleds Auge gerettet werden kann. Aber es schien so, als sei die Verletzung wirklich ernst und es gab keine andere Möglichkeit, als es zu entfernen“, fügt der Vater hinzu.
Aufgrund der Sensibilität und Komplexität der Operation wurde Khaled in das Tel Hashomer Hospital in Tel Aviv verlegt. Er hatte das Glück, die Behandlung ohne Verzögerung zu erhalten. Der Prozess der Verlegung palästinensischer Patienten in israelische Krankenhäuser bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich. Viele verletzte Palästinenser müssen tage- oder sogar monatelange Wartezeiten in Kauf nehmen, bevor ihnen eine Transportgenehmigung erteilt wird.
Israelische Krankenhäuser stehen seit langem in der Kritik, palästinensische Patienten schlecht zu behandeln und auch rein kosmetische Maßnahmen zu ergreifen, um der Welt fadenscheinig zu zeigen, dass sie ihre beruflichen Pflichten erfüllen – ohne nicht-Israelis zu diskriminieren, einschließlich Palästinenser.
In vielen Fällen stoßen verwundete und kranke Palästinenser auf Hindernisse wie fehlende Genehmigungen oder andere Sicherheitsvorgaben, die ihnen den Zugang zu israelischen Krankenhäusern verwehren. Bewohner des besetzten Westjordanlandes leiden angesichts der von Israel auferlegten strengen Sicherheitsbeschränkungen häufig unter solchen bürokratischen Hürden.
Nach internationalem Recht ist Israel als Besatzungsmacht gesetzlich verpflichtet, die Gesundheit und das Wohlergehen der palästinensischen Bevölkerung in den unterdrückten Gebieten zu gewährleisten. Dazu gehört der Zugang zu angemessener medizinischer Behandlung, die Sicherstellung der Verfügbarkeit medizinischer Hilfsgüter und die Aufrechterhaltung medizinischer Dienste. Israel ist außerdem verpflichtet, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen im Krankheitsfall die notwendigen medizinischen Leistungen erbracht werden können.
Im Fall von Khaled wurde sein Auge schließlich im Tel Hashomer Hospital entfernt. Anstelle des Auges wurde eine Art weiße Flasche eingesetzt. Das Kind litt während und nach der Operation unter unerträglichen Schmerzen. Aber der größere Schaden und Schmerz war psychologischer Natur – etwas, unter dem Khaled immer noch leidet.
Jeden Tag bringt er seinen Vater zum Weinen, wenn er unschuldig fragt: „Ich will mein Auge zurück. Wann werden die Ärzte es mir zurückgeben?“ „Die Unschuld in seinem Gesicht, wenn er mir die Frage stellt, bringt mich innerlich um. Er weiß, dass Israel dafür verantwortlich ist, dass er sein Auge verloren hat. Aber er glaubt, dass es zu ihm zurückkehren wird und er wieder sehen kann“, sagt Akram seufzend.
Das psychische Trauma wird durch die Weigerung des kleinen Khaled, mit den Psychiatern zusammenzuarbeiten, weiter verschärft. Er lebt isoliert und zurückgezogen. Er will nicht mehr mit seinem Vater spielen und auch nicht im Auto mitfahren.
Gezielte Angriffe
Die in Genf ansässige NGO Defence for Children International hat dokumentiert, dass in diesem Jahr bisher vier palästinensische Kinder aufgrund gezielter israelischer Schüsse ihr Augen verloren haben. Der 15-jährige Tariq Jamal Jumaa war das jüngste Opfer. Er verlor am 12. August sein Auge durch eine Kugel der israelischen Armee.
Der Direktor des Programms zur Rechenschaftspflicht, Ayed Abu Qutaish, sagt, dass israelische Soldaten gezielt auf palästinensische Zivilisten, darunter auch Kinder, feuern. Dies geschehe zumeist aus nächster Nähe und treffe die Opfer am Oberkörper oder Kopf. Ziel solcher Angriffe sei es, bleibende Schäden zu hinterlassen oder zu töten.
Die NGO hat außerdem dokumentiert, dass seit Anfang dieses Jahres 40 palästinensische Kinder durch israelische Kugeln getötet wurden. Im Vergleich dazu wurden 44 Kinder im Gesamtjahr 2022 getötet.
Nach Ansicht von Abu Qutaish nutzt Israel den außergewöhnlichen Schutz vor der Rechenschaftspflicht, den es durch internationale Interessengruppen genießt. Israelische Soldaten kämen deshalb immer wieder ohne Strafen davon. „Nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs fallen diese unter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, fügt er hinzu.
Die Schwere des psychologischen Traumas, das die Opfer und ihre Familien nach dem Augenverlust der Kinder erleiden, ist groß. Die Verletzungen hinterlassen bleibende Spuren, trotz psychologischer Hilfe.
„Der gezielten Bekämpfung palästinensischer Kinder sind keine Grenzen gesetzt. Dabei geht es darum, sie zu erschießen, zu verfolgen, zu verhaften, sie auch nach der Festnahme zu foltern und sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen – alles Methoden, die Israel ohne jegliche Verantwortung anwendet“, folgert Abu Qutaish
„Ich fühle mich unvollständig“
Am 24. April befand sich Omar Assi (16) im Hof seines Hauses, als israelische Soldaten eine Blendgranate auf das Dach abfeuerten. Sie fiel vor ihm nieder und explodierte, wobei ein Granatsplitter ihn im Gesicht verletzte. Plötzlich wurde die Welt dunkel und er konnte nichts mehr sehen. Er schrie so laut, dass Blut aus seinem Gesicht strömte und den Hof rot färbte. Er wurde rasch in ein Krankenhaus gebracht, wo sie versuchten, ihn zu behandeln.
„Nachdem ich stundenlang im Operationssaal gelegen hatte, kamen die Ärzte raus, um meiner Familie zu sagen, dass ich auf dem rechten Auge das Augenlicht verloren habe und dass sie Schwierigkeiten hatten, das linke zu retten“, sagt Omar. Der Schmerz der Granatsplitter auf seinem ganzen Gesicht war unerträglich. Er konnte seine Augen mehrere Tage lang nicht öffnen und war sich nicht bewusst, dass er fast sein komplettes Augenlicht verloren hatte.
„Als ich meine Augen öffnete, sah ich auf dem rechten Auge nichts. Auf der linken Seite sah ich Nebel und unklare Bewegungen der Menschen um mich herum. Danach unterzog ich mich vier Operationen am linken Auge, bei denen es jedoch nicht gelang, mein Sehvermögen zu verbessern“, sagt er.
Omars Leben hat sich nach seiner Verletzung buchstäblich verändert. Aufgrund seiner Sehschwäche konnte er das letzte Semester nicht abschließen. Er muss Dinge nah an sein Gesicht halten, um sie zu sehen. Er sitzt die ganze Zeit zu Hause und möchte nicht wie früher mit seinen Freunden ausgehen oder mit seinem Vater aufs Feld.
„Ich fühle mich minderwertig. Ich möchte zu meinem früheren Leben zurückkehren, lernen, mit Freunden abhängen und meinen Eltern helfen. Israel hat mir all das in einem Moment vorenthalten“, fügt Omar hinzu.
Omars Vater Talal Asi erzählte uns, dass sich das Leben der gesamten Familie verändert habe. Sie können Omar nicht alleine lassen, weil er ein Netzhautimplantat hat und sich nicht viel bewegen sollte. Sie versuchen, ihn psychologisch zu unterstützen und ihm bei all seinen täglichen Bedürfnissen zu helfen.
„Omar ist mein ältester Sohn, er war mit seiner großen Energie und Hilfe für uns das Rückgrat des Hauses. Er war die ganze Zeit über fröhlich. Aber jetzt ist er ein trauriger und frustrierter Mensch.“
Gnadenlos
Die Methode der gezielten Schüsse beschränkt sich nicht nur auf Kinder. Bei Überfällen ist es für die israelische Armee zur Gewohnheit geworden, die Augen der Palästinenser ins Visier zu nehmen. Nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmondes erlitten sechs Bewohner des Dorfes Bita südlich von Nablus Augenverletzungen. Zwischen 2021 und 2022 wurden zwölf Palästinenser in Jerusalem an den Augen verletzt.
Issa Amro, ein palästinensischer Aktivist, der sich gegen die illegale Besatzung und Besiedlung Palästinas ausspricht, sagt, Israel ziele aus mehreren Gründen auf den Oberkörper von Kindern im Allgemeinen und ihre Augen im Besonderen: vor allem, um die palästinensische Gesellschaft und die Eltern der Kinder für ihren anhaltenden Widerstand gegen die israelische Besatzung zu bestrafen. Er sagt, die Israelis nennen es „die Erhöhung des Preises des Widerstands“.
Amro hält israelische Soldaten für Extremisten und Faschisten, die versuchen, Sadismus an palästinensischen Kindern auszuüben. „Der israelische Soldat ist besiegt und möchte spüren, dass seine Fähigkeit lebendig bleibt, indem er Kinder schikaniert und sie mit Waffen angreift“, fügt er hinzu.