Symbolbild. 11. Mai 2011: Neu gepflanzte Bäume stehen vor der Stadt Ordos, auch bekannt als Kangbashi, in der Inneren Mongolei. (Reuters)
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Wer ein oder zwei Stunden außerhalb von Shanghai oder Peking fährt, sieht immer noch große und moderne Städte, die für gewöhnlich in einem guten Zustand sind. Sie stehen meist leer – nicht weil sie von ihren Bewohnern verlassen worden wären, sondern weil sie als Geldanlage für Chinesen dienen, die in einer anderen Wohnung zuhause sind.

Li Gan ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Texas A&M University und Direktor eines renommierten Umfrage- und Forschungszentrums in China. Er gilt als einer der besten Experten für den chinesischen Wohnungsmarkt.

Auf die Frage des Online-Finanzmagazins „Business Insider“, wie viele Geisterstädte es in China gibt, hat Li Gan keine Antwort parat. „Ich weiß nicht, ob es eine Definition von ‚Geisterstadt‘ gibt“, so der Wirtschaftsprofessor. „Also weiß ich nicht, ob es eine Zahl gibt.“

Die bekannteste Geisterstadt Chinas dürfte „Ordos New Town“, auch bekannt als Kangbashi, in der Region Innere Mongolei sein. Anfang der 2000er Jahre sollte die Stadt eine Million Menschen beherbergen, eine Zahl, die später auf 300.000 reduziert wurde. Im Jahr 2016 lebten jedoch nur 100.000 Menschen in der Stadt. Kangbashi gelang es schließlich, Einwohner anzulocken, nachdem China einige seiner besten Schulen in die Stadt verlegt hatte, wie Japans Wirtschaftszeitung „Nikkei“ Anfang dieses Jahres berichtete.

21 Prozent der Wohnungen stehen leer

Die unbewohnten Einheiten machen einen erheblichen Teil des riesigen chinesischen Wohnungsmarktes aus, der doppelt so groß ist wie der US-Wohnungsmarkt und 2019 einen Wert von 52 Billionen Dollar erreichte. Daten aus der zuletzt veröffentlichten Umfrage „China Household Finance Survey“, die von Gan durchgeführt wird, zeigen, dass 2017 21 Prozent der Wohnungen – etwa 65 Millionen – leer standen, wie das „Wall Street Journal“ berichtete. Das wären genug Wohnungen für jeden Einwohner Frankreichs.

Doch anders als in Teilen von USA und Japan, wo Städte und Regionen aufgrund von verlassenen und verfallenen Häusern als Geisterstädte bezeichnet werden, sind die chinesischen Geisterstädte unbewohnt. Wie kommt das? Bei Chinas Geisterstädten handelt es sich nicht um Städte, die sich in einem Zustand des Verfalls befinden. Es sind Neubauten, die als Investitionen gekauft wurden. Sie sind auch ein Symptom für ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage.

„Dass diese Häuser leer stehen, bedeutet, dass sie an Investoren und Käufer verkauft, aber weder von den Eigentümern noch von den Mietern bewohnt werden“, so Xin Sun, Dozent für chinesische und ostasiatische Wirtschaft am King's College London zu „Business Insider“.

Auf der Angebotsseite, so Sun, erhalte die Regierung hohe Verkaufserlöse aus der Verpachtung von Grundstücken an Bauträger. „Dies gibt der Regierung einen sehr starken Anreiz, die Entwicklung zu fördern, anstatt sie zu begrenzen.“

Chinesen haben Platzen einer Immobilienblase nicht erlebt

Auf der Nachfrageseite hat der allgemeine Aufwärtstrend bei den Hauspreisen eine große Nachfrage nach Zweit- und Drittimmobilien ausgelöst.

„Innerhalb von zwei Jahrzehnten sind die Hauspreise an vielen Orten, auch in den Großstädten, um ein Vielfaches gestiegen“, so Xin Sun in „Business Insider“. „Die meisten Menschen in China haben das Platzen einer großen Immobilienblase, wie sie die USA 2008 oder Japan in den 1990er Jahren erlebt haben, nicht miterlebt.“

„Dies führt zu der Überzeugung, dass Immobilien der beste Weg sind, um Wohlstand zu erhalten und zu generieren“, so Sun. „Und das stimuliert die Nachfrage nach dem Kauf weiterer Immobilien.“

Die Wohneigentumsquote in China ist hoch: Mehr als 90 Prozent der Haushalte sind Eigenheimbesitzer, so ein Forschungsbericht des National Center for Biotechnology Information vom Januar über Eigenheimbesitz in China. Mehr als 20 Prozent der Hausbesitzer in China besitzen mehr als ein Haus. Zum Vergleich: In den USA liegt die Wohneigentumsquote bei 65 Prozent. Der Immobilienbesitz macht auch einen übergroßen Teil des Vermögens der Haushalte in China aus: 70 Prozent des Vermögens der Haushalte – weit mehr als in den westlichen Volkswirtschaften – sind in Immobilien angelegt.

Evergrande-Kollaps könnte Vertrauen in Immobilien-Investments schwächen

Eine weitere Gefahr besteht darin, dass die Evergrande-Krise die Wahrnehmung von Immobilien in China als sichere Investition verändern könnte. Das ist ein großes Problem, da der Immobiliensektor 29 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes ausmacht.

„Die Regierung ist stark davon abhängig, dass die Haushalte weiterhin in Immobilien investieren“, ist Xin Sun überzeugt. „Wenn die Blase also platzt, wird dies unweigerlich das Vertrauen der Menschen in Immobilien beeinträchtigen und ihre Wahrnehmung von Immobilien als beste Möglichkeit zur Erhaltung und Schaffung von Wohlstand untergraben.“ Das bedeute, dass eine Verlangsamung des Immobilienmarktes zu einer Verschlechterung des Wirtschaftswachstums und der Staatsfinanzen führen würde. Mehr zum Thema: China: Dominoeffekt wegen drohender Pleite des Immobilienriesen „Fantasia“?

TRT Deutsch und Agenturen