Polen, Warschau: Das polnische Verfassungsgericht in Warschau. Teile des EU-Rechts sind laut einem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts nicht mit der Verfassung des Landes vereinbar. (dpa)
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Im Streit um den polnischen Rechtsstaat hat die EU-Kommission ein heikles Verfahren gegen Warschau eingeleitet. Diesmal geht es um zwei hoch umstrittene Urteile des polnischen Verfassungsgerichts, die den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht in Frage stellen. Am Ende des Vertragsverletzungsverfahrens könnten eine weitere Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und empfindliche Geldstrafen stehen.


Die nationalkonservative Regierung und die EU-Kommission streiten seit Jahren über die Justizreformen des Landes. Schon jetzt hat die Brüsseler Behörde, die in der EU die Einhaltung von EU-Recht überwacht, mehrere Verfahren gegen Warschau eingeleitet und Klagen beim EuGH eingereicht. EU-Kommissionsvize Vera Jourova äußerte am Mittwoch den Wunsch, dass die polnische Regierung ihren Ansatz ernsthaft überdenken möge, so dass man im kommenden Jahr einen Weg finde, im Gespräch zu sein.
„Angriff auf die polnische Verfassung“
Die Reaktionen am Mittwoch lassen allerdings wenig Bereitschaft dazu erkennen: „Die Europäische Kommission missversteht die Trennung zwischen den Zuständigkeiten der Staaten und den EU-Strukturen“, sagte Regierungschef Mateusz Morawiecki. Vize-Justizminister Sebastian Kaleta wurde deutlicher und sprach von einem „Angriff auf die polnische Verfassung und unsere Souveränität“.
Der Schritt vom Mittwoch ist vor allem deshalb brisant, weil der Europäische Gerichtshof am Ende womöglich in eigener Sache urteilen müsste - darüber, ob EuGH-Urteile Vorrang vor denen des polnischen Verfassungsgerichts haben. Hinzu kommt, dass nationale Gerichte eigentlich ohne den Einfluss einer Regierung Entscheidungen treffen sollten. Allerdings betrachtet die EU-Kommission das polnische Verfassungsgericht ohnehin nicht mehr als Gericht, wie sie am Mittwoch klarstellte. Es gebe ernsthafte Zweifel an dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass das Gericht nicht rechtmäßig besetzt ist.
Hintergrund des neuen Verfahrens ist unter anderem ein Urteil des Verfassungsgerichts von Anfang Oktober, wonach Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Bereits im Juli hatte das Gericht entschieden, dass die Anwendung einstweiliger EuGH-Verfügungen, die sich auf das Gerichtssystem des Landes beziehen, nicht mit Polens Verfassung vereinbar seien.
Polen ignoriert Mahnungen aus Brüssel
Nach Ansicht der EU-Kommission stellen diese Richtersprüche einen Eckpfeiler der europäischen Rechtsgemeinschaft in Frage. Die Behörde befand nun, dass die Urteile unter anderem gegen den Vorrang von EU-Recht verstießen. Zudem verletzten sie die bindende Wirkung von EuGH-Urteilen und sorgten dafür, dass das Recht auf effektiven Rechtsschutz vor polnischen Gerichten eingeschränkt werde.
Doch schert sich die Regierung in Warschau bislang nicht allzu sehr um Mahnungen aus Brüssel oder Luxemburg. Im Oktober entschied der EuGH zwar, dass Polen in Zusammenhang mit den Justizreformen ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von einer Million Euro zahlen muss. Polens Justizminister Zbigniew Ziobro entgegnete jedoch prompt, dass Polen keinen einzigen Zloty zahlen sollte. Die EU-Kommission schickte deshalb am Mittwoch einen weiteren Brief an die polnische Regierung, in dem sie ab dem 10. Januar mit offiziellen Zahlungsaufforderungen droht, wie ein Sprecher sagte. Die Strafe könnte dann schon bei mehr als 60 Millionen Euro liegen.
Wenn es mit dem von Jourova gewünschten Dialog also nicht klappt, bleiben der EU-Kommission zwei Hebel, Druck zu machen - beide sind finanzieller Natur. Zum einen sind das die milliardenschweren EU-Corona-Hilfen, die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen blockieren will, bis Polen bestimmte Justizreformen zurückgenommen hat. Zum anderen ist das der neue Rechtsstaatsmechanismus, über den EU-Mittel wegen mutmaßlicher Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien gekürzt werden können. Zur Rechtmäßigkeit dieses Instruments dürfte der EuGH Anfang 2022 entscheiden. Anschließend könnte die EU-Kommission Geld einbehalten.
Der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund beklagte am Mittwoch, dass das Vertragsverletzungsverfahren ein schwaches Instrument sei. „Will die EU-Kommission wirklich Druck aufbauen, dann muss es endlich Finanzsanktionen gegen die Regierung in Warschau für die eklatanten Rechtsstaatsverstöße geben.“


dpa