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In Deutschland treten immer mehr Menschen aus der Kirche aus. Nicht weil sie sich von Gott abwenden, sondern von den Dogmen. Der Mensch von heute ist individualistisch, freiheitsliebend und nicht bereit, sich Regeln unterzuordnen.

In Deutschland treten jährlich immer mehr Christen in Deutschland aus der Kirche aus. Während die katholischen und evangelischen Kirchen im Jahr 2018 zusammen etwa 700.000 Anhänger verloren hatten, waren es im Jahr 2019 bereits 800.000. In den deutschsprachigen Nachbarländern ist ein ähnlicher Trend zu beobachten. Die Gründe hierfür sind divers. Eine wichtige Komponente spielt aber die Kirchensteuer, die etwa je nach Bundesland acht bis neun Prozent des Einkommens ausmacht. Ein weiterer Faktor ist die Unzufriedenheit mit der Kirche. Viele Gläubige fühlen sich von dieser Institution nicht vertreten beziehungsweise empfinden sie als unglaubwürdig. Sie fühlen sich von den vermittelten Inhalten nicht angesprochen und nur die wenigsten Mitglieder besuchen sonntags regelmäßig den Gottesdienst.

Diese Kritik ist jedoch nicht neu. Einer der berühmtesten Kritiker des Christentums ist wohl Friedrich Nietzsche. Der deutsche Philosoph aus dem 19. Jahrhundert klagte die Kirche an und ging mit ihr hart ins Gericht. Er beklagte in seinem Werk „Der Antichrist“, dass sie zum Verderbnis der Vernunft führe und dem Menschen all seine Freiheit raube. Dabei ging es ihm insbesondere um das missverstandene und missinterpretierte Christentum. Insbesondere beim „gekreuzigten Gott“ beziehungsweise dem Opfertod Jesu sah er ein „schauderhaftes Heidentum“, wie er es in Kapitel 41 des Werkes beschreibt.

So lehnte Nietzsche, wie auch viele Anhänger heute, Dogmen, Normen und Werte, die von der Kirche vorgeschrieben oder repräsentiert werden, ab. Insbesondere heutzutage zeigt sich durch die steigende Bedeutung des Individualismus in der Gesellschaft, dass Autonomie und Unabhängigkeit höchste Priorität genießen. Der Mensch ist dadurch in den Mittelpunkt gerückt. Individualisten handeln eher auf Basis ihrer eigenen Vorstellungen anstatt der Gruppennormen und persönliche Ziele stehen über denen des Kollektivs. Kollektivisten hingegen, wie es insbesondere die fernöstlichen Gesellschaften sind, zeichnen sich durch ein interdependentes Selbst und damit durch eine stärkere Abhängigkeit von ihrer Gruppe (Familie, Gesellschaft etc.) aus. Die Priorität liegt stärker auf und in den Zielen der Gruppe und ihr Verhalten richtet sich nach Gruppennormen. Die Beziehung zur Gruppe ist ihnen daher sehr viel wichtiger. Man kann somit auch vermuten, dass insbesondere gemeinschaftliche Versammlungen, wie es die Gottesdienste sind und die dabei vermittelten Gemeinschaftsnormen Individualisten im deutschsprachigen Europa weniger ansprechen.

Gleichzeitig mag manch einer annehmen, dass dieser Rückgang von Religiosität ein Produkt unseres modernen Zeitalters ist. Religion scheint nicht mehr zum emanzipierten und rationalen Menschen zu passen. Oftmals wird der Glaube mit etwas Irrationalem assoziiert, dem Freiheit und kritisches Denken gegenüberstehen. So einfach ist es aber nicht. Denn interessanterweise lässt sich parallel zu den zunehmenden Austritten aus der Kirche ein weiterer verwirrender Trend beobachten: ein jährlich wachsender Boom im Bereich der Esoterik und des Okkultismus.

Dies zeigt, dass bei vielen Menschen weiterhin ein Bedürfnis nach Spiritualität zu bestehen scheint. Laut der Allbus-Studie (2012) geben nur 20 Prozent der Westdeutschen und 55 Prozent der Ostdeutschen an, nicht an Gott oder ein höheres Wesen zu glauben. Dies verdeutlicht dass ein Kirchenaustritt nicht unbedingt mit einem Aufgeben des Glaubens zu tun hat, sondern dass dieser mit einer Neuorientierung zusammenhängt, einer fehlenden Identifikation mit der Kirche und gleichzeitig gefühlten spirituellen Leere, die es anderweitig zu füllen gilt. Okkulte und esoterische Strömungen sind hierbei enorm beliebt und zumeist alles andere als rational oder vernünftig. Mittlerweile gibt es an jedem Wochenende in nahezu jeder deutschen Stadt Yoga- Meditations- oder diverse spirituelle Selbstfindungskurse. Das Angebot ist extrem vielfältig und der Esoterik-Markt boomt. In Deutschland werden mit solchen Angeboten Schätzungen zufolge jährlich 20 Milliarden Euro Umsatz erzielt.

Um nochmal auf den deutschen Philosophen zurückzugreifen, so preist auch Nietzsche die Spiritualität hoch an. Er lobt den Buddhismus, bezeichnet ihn als sanftmütig und liberal sowie als wahrhafter und objektiver als das Christentum (Vergleich hierfür Kapitel 20-23 im oben genannten Werk).

Doch auch bei der starken Nachfrage in diesem spirituellen Bereich sticht der deutsche Individualist wieder heraus. Denn Yoga ist eigentlich ein allumfassender Lebensweg, eine Lebensweise, die es einzuhalten gilt. Aber nur die wenigsten Deutschen, die Yoga betreiben, folgen diesem Weg. Yoga wird vielmehr als sportliche Übung und für das Seelenheil genutzt. Man nimmt sich also von dem Angebot, was einem passt, ohne weiteren Vorschriften folgen oder sich binden zu müssen. Dadurch soll die eigene Unabhängigkeit gewahrt werden - denn man möchte sich den Regeln und Vorgaben nicht unterordnen.

Zum Schluss soll kurz angemerkt werden, dass in der Medienlandschaft die hohe Zahl der Austritte aus der Kirche oftmals im Zusammenhang mit dem Islam als am schnellsten wachsende Religion erwähnt wird. Das hat häufig einen bitteren Beigeschmack: wird doch suggeriert und prognostiziert, dass in einigen Jahrzehnten die Anzahl von Muslimen in Europa höher sein wird als die der Christen. Dadurch werden Angst und Unbehagen geschürt. Die sogenannte christlich-abendländische Kultur sei angeblich bedroht. Diese Prognosen sind jedoch aus mindestens drei Gründen höchst problematisch. Zum einen bedeutet, wie oben festgestellt wurde, eine wachsende Zahl an Kirchenaustritten nicht unbedingt eine Abwendung vom Christentum. Zum anderen kennen Muslime keine Institution wie die der Kirche, wodurch das Erfassen der Muslime ohnehin problematisch ist. Außerdem sind auch Muslime, wie Anhänger aller anderen Religionen, keine homogene Gruppe. Eine Person, die sich als Muslim bezeichnet, kann ein kulturelles, traditionelles, liberales oder gar orthodoxes Islamverständnis besitzen und den Glauben unterschiedlich intensiv oder überhaupt nicht praktizieren.

Zusammenfassend kann man sagen, dass im individualistisch geprägten Deutschland die Kirchen immer mehr Verluste einzubüßen haben. Die Austritte müssen aber per se nicht unbedingt eine Abwendung vom Glauben bedeuten. Viele fühlen sich von der Kirche nicht repräsentiert. Dennoch ist eine spirituelle Verbundenheit mit Gott oder einem höheren Wesen immer noch vorhanden, so dass immer mehr Deutsche dieses Bedürfnis anderweitig zu stillen versuchen. Dabei möchten sich die wenigsten irgendwelchen Regeln und Vorschriften unterwerfen, da dies als Eingriff in die persönliche Freiheit und Unabhängigkeit betrachtet wird.

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