Der Morgen nach dem Putschversuch auf der Bosporus-Brücke (Others)
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Für die Hinterbliebenen der 251 Opfer, die ihr Leben gaben, sowie für die Angehörigen der 2196 verletzten Menschen wird die Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 für immer als furchtbares Ereignis fortbestehen. Von daher sollte jede Analyse über den Putschversuch im Gedenken an die Märtyrer und Helden verfasst werden.

Aber mit aller nötigen Verneigung, Hochachtung und Respekt vor diesen Bürgern muss man auch festhalten, dass ihr furchtloser Einsatz das ganze Land vor dem Untergang bewahrt hat. Ihr Eingreifen war nicht umsonst. Sie und all die Millionen von Männern und Frauen, die mit bloßen Händen die Errichtung einer permanenten Diktatur verhinderten, schrieben Geschichte; ohne sie gäbe es keine moderne Türkei mehr.

Zuerst jedoch: Anscheinend sehen es nicht alle Kommentatoren so. Spotlight auf CNN USA.

Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde

Eigentlich sollte die CNN USA Kommentatorin Jenny White es besser wissen, war sie doch 2016 Professorin für Türkeistudien an der Universität Stockholm; man würde also meinen, eine objektive, faire Beobachterin („The tragedy of Turkey’s attempted coup“/Die Tragödie des Putschversuches in der Türkei (freie Übersetzung), 16. Juli 2016). Ihr gewählter Titel suggeriert nichts anderes.

Doch dann zeigt die Autorin ihr wahres Gesicht: „kurz gesagt, die AKP hat Ziegelstein für Ziegelstein die türkische Demokratiemauer auseinandergenommen“. Als ob das nicht genug an Fake Nachrichten wäre, schreibt sie weiter: „die Tragödie vom Freitag ist weitgehend selbst zu verantworten durch eine Regierung, die bereit war, eine funktionierende Demokratie gegen diktatorische Macht einzutauschen. Ironischerweise scheint es so, als ob ein gescheiterter Putschversuch nun dazu genutzt wird, dieses Ziel eher zu erreichen.“

Bitterer Nachgeschmack: Wenn ein führender amerikanischer Sender noch während eines Putschversuches quasi den Terroristen die Hand reicht und die moderne, starke Türkei schlechtredet, könnte man zynisch vermuten, dass die Regierung in Washington vielleicht auch nicht gerade begeistert war von den Führungsqualitäten Erdogans, der Beliebtheit im Volke sowie dem rasanten Aufstieg seines Staates.

Zwischenfazit: CNN USA hätte es so viel besser machen können, seiner Rolle als neutraler globaler Fernsehsender gerecht zu werden.

FETÖ verantwortlich für Tote und Verletzte

Panzer blockieren die Bosporus-Brücke, Bomben werden auf das Parlament in Ankara geworfen, staatliche Einrichtungen und private Unternehmen werden angegriffen und besetzt. Der Putschversuch der kleinen Gruppe von Gülen inspirierter und koordinierter abtrünniger Militärs ist im vollen, mörderischen Gange. Aber dann, um 0.25 Uhr, also bereits am 16. Juli, spricht Präsident Recep Tayyip Erdoğan mittels Facetime live zur Bevölkerung; er war selbst Ziel eines Entführungs- und/oder Killerkommandos im südlich gelegenen Küstenort Marmaris gewesen.

Er rief seine Landsleute dazu auf, nach draußen zu gehen und die Demokratie zu verteidigen. Und nichts anderes taten die mutigen, tapferen, furchtlosen Türken. Es war der Anfang vom Ende des Umsturzversuches.

Ironie des Schicksals: Erdoğan konnte von seinem iPhone CNN Türk erreichen, dessen Studios in Istanbul ebenfalls von den Putschisten kurzzeitig besetzt worden waren. CNN Türk ist das türkische Netzwerk des im ersten Absatz angesprochenen CNN USA. Interessanterweise hörte man im Anschluss an Erdoğans Aufruf keinen weiteren Kommentar von Frau Professorin White; hatte man vielleicht schon die Nach-Erdoğan-Ära eingeplant, „Umsturz live auf CNN“?

Es gab und gibt keinen Zweifel, wer dahintersteckt: FETÖ, die Fetullahistische Terrororganisation, der überaus gerechtfertigte Name steht im starken Kontrast dazu, wie sich die Gülen-Truppe gerne selbst verkaufte: als „Cemaat“ oder „Hizmet“, also „Gemeinschaft“ oder „Dienstleistung/Service“.

Hätte man es kommen sehen müssen? Gülen gründete eine Art Jugendclub bereits im Jahr 1966 und nannte ihn „Hizmet“ (s.o.). Das wahre Ziel war es jedoch über die folgenden Jahrzehnte, den türkischen Staat zu unterwandern, ein Untergrund-Netzwerk aufzubauen. In der Türkei gab es leider auch früher schon Interventionen des Militärs, und Gülen verzichtete meistens darauf, diese zu verurteilen; es erscheint sogar so, dass ein entscheidender Impetus für seine Bewegung erst nach dem Militärputsch des Jahres 1980 zu bemerken war. Seitdem eröffneten seine Gläubigen private Unternehmen, infiltrierten staatliche Behörden und Instanzen und gründeten religiös ausgerichtete Schulen und Wochenendnachhilfeschulen. Das Letztere und was normalerweise als positiv anzusehen war, wurde schnell zu einer Gehirnwäschemaschine ausgebaut. Es wird vermutet, dass einige Jahre vor dem Putschversuch der Gülen-Clan rund 25 Prozent aller Wochenendnachhilfeschulen in der Türkei kontrollierte und sich so zu einem Großteil auch finanzierte.

Warum also wollte FETÖ die moderne Türkei vernichten?

Die heutige Türkei – und das beinhaltet in der Rückschau natürlich bereits das Jahr 2016 – und deren Bevölkerung lebt in völliger Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit. Seit der Amtsübernahme der Regierungsgeschäfte durch die AK-Partei Anfang 2003 nach den Wahlen Ende 2002 wurde eine bisher ungekannte Dynamik spürbar, Reformen überall, eine totale „Überarbeitung“ des ehemaligen Status quo, der den stolzen und nach vorne schauenden türkischen Menschen einfach nicht mehr gut genug war.

Anfangs dachte niemand, dass selbst innerhalb des eigenen Landes eines Tages Umstürzler ihr Handwerk ausüben würden. Da es Erdogan gelungen war, ungewollte Bevormundung des Militärs zu beenden und eine moderne, stolze, starke Armee zu installieren, blieb es Gülen nur noch übrig, genau jenes Militär für seine kriminellen Zwecke zu instrumentalisieren, er konnte ja nicht Tausende von Durchschnittsbürgern bewaffnen … Es gelang ihm aber nur bruchteilhaft, da auch im Militär des Neuen Millenniums das Wort „Demokratie“ zum Leitmotiv geworden war. Ein diktatorischer Prediger, der sich der türkischen Justiz nicht stellen wollte, passte hier schon gar nicht mehr hinein.

Wohlstand für alle? Ein gerechtes Einkommen? Gleichberechtigung am Arbeitsplatz? Eine pro-aktive Außenpolitik und nicht mehr der Spielball der anderen Mächte? Reformpolitik ohne Ende? Die Türkei als anerkannter Partner für alle Demokratien dieser Welt? Diese Liste würde Seiten füllen, falls komplettiert – und genau hier setzte der Gülen-Clan an.

Ziel war die Unterdrückung der individuellen Freiheit, die Abschaffung der Menschenrechte, die Unterwerfung unter einen kriminellen Flüchtling, der sich in Pennsylvania versteckt und als „Retter“ und „Befreier“ zurück in die Türkei einreisen wollte.

Strategie: Geld und Bestechung? Natürlich. Examensresultate für Schul- und Akademieplätze fälschen oder Examensfragen vorab an „gefällige“ Kandidaten verteilen? Sicher. Eine eigene Bank (Asya) zur Geldwäsche und der Zwang, genau dort ein Konto zu eröffnen? Auch nicht schlecht.

DACH – Region neue Spielwiese von FETÖ?

Vereinzelt melden sich immer noch FETÖ-Mitglieder aus dem Ausland zu Wort. Dies beinhaltet die, denen es gelang kurz vor oder nach dem 15. Juli die Türkei zu verlassen. Interessanterweise muss hier festgehalten werden, dass es in so manchem Fall anscheinend möglich war, quasi über Nacht Visa von anderen Staaten zu erhalten. Es sei denn und das ist zu vermuten, dass FETÖ-Mitglieder vorab vor Botschaften in Ankara sprichwörtlich Schlange standen, um ihre Fluchtwege unter Vortäuschung falscher „dringender2 Reisegründe zu planen.

Drei Punkte zum Abschluss: Erstens, wenn Terroristen einmal in einem Land zuschlagen und dann besiegt werden und fliehen, könnte es durchaus sein, dass sie sich eine neue Terror-Spielwiese zulegen wollen. Die PKK ist solch ein Fall – schon lange stellen sie eine enorme Bedrohung für die Sicherheit der Menschen in ganz Europa dar. So schlimm es klingt: FETÖ und PKK wären perfekte Verbündete.

Zweitens, FETÖ ist keine Abkürzung für einen harmlosen türkischen Rentnerverein, der in der Gartenlaube Tee trinkt, sondern brutale Morde plant und wie 2016 auch umsetzt. Die Regierungen der DACH-Region wären gut beraten, geflüchtete FETÖ-Anführer an die Türkei auszuliefern, vor allem, wenn die Türkei solche Ersuchen stellt.

Und drittens: Die Menschen, die in der Nacht vom 15. zum 16. Juli 2016 ihr Leben für ihr Land riskierten, kämpften für die Demokratie und nicht gegen sie. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass zum fünfjährigen Gedenktag an den Umsturzversuch auch unsere geschätzten Kolleginnen und Kollegen von ARD bis ZDF, von NZZ über SZ bis zurück zur WZ und überall sonst zumindest ein paar mitfühlende Worte über diese türkischen Heldinnen und Helden verfassen. Journalistischer und menschlicher Anstand würde es gebieten.

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