Polizeigewalt gegen Randalierer? Staatsanwaltschaft in Bonn ermittelt (dpa)
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Emirhan Altıntaş, ein dreizehnjähriger Junge türkischer Herkunft, wurde in Duisburg von der Polizei kurzzeitig festgenommen. Zuvor wurde der Junge zu Boden gedrückt. Ein Polizeibeamter drückte sein Knie in den Halsbereich des wehrlosen Jungen. Laut Polizei soll Altıntaş ein Wahlplakat abgerissen und vor der Polizei weggelaufen sein. Das gewaltsame Vorgehen der Polizei wurde auf Video festgehalten.

„Ich konnte nicht atmen,” erklärte Altıntaş der türkischen Medienagentur Anadolu Ajansi. Die Familie wird rechtliche Schritte gegen die Duisburger Polizei einleiten.

Die Videoaufnahme hat auf sozialen Medien Empörung ausgelöst. Während türkische Medien über den Vorfall berichten und die Familie Altıntaş interviewten, findet die auf dem Video offensichtlich zu sehende Gewalt eher wenig Beachtung in deutschen Medien.

Polizeigewalt ist kein „Einzelfall”

Die von Altıntaş erlebte Konfrontation mit der Polizei ist kein Einzelfall. Immer wieder zirkulieren Videoaufnahmen und Berichte, die offen unangemessene Gewaltanwendungen der Polizei dokumentieren. Vor allem bei größeren Demonstrationen kam es in den vergangenen Monaten zu Ausschreitungen und Gewalt gegen einzelne Demonstranten.

Bedenken in Bezug auf das aggressive Vorgehen der deutschen Polizei und mögliche von ihr begangene Menschenrechtsverletzungen wurden bereits letztes Jahr vom UN-Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Nils Melzer, geäußert. Es sei absolut inakzeptabel, wenn die Polizei wegen bloßer Ordnungswidrigkeiten oder zivilen Ungehorsams mit teils lebensbedrohlicher Gewalt gegen wehrlose Demonstranten vorgehe, sagte Melzer damals.

Heute kritisiert Melzer die Bundesregierung erneut. Er findet ihre Reaktion auf die Fälle von Polizeigewalt „bedenklich.” Melzer spricht von „Systemversagen”. Die Behörden hätten eine verzerrte Wahrnehmung davon, was verhältnismäßig sei. So fand die Bundesregierung es verhältnismäßig, dass die Polizei einen Demonstranten vom Fahrrad stieß und zu Boden warf. Behörden würden nicht erkennen, wie blind sie seien, so Melzer. „Die Überwachung der Polizei funktioniert in Deutschland nicht“, urteilte der UN-Sonderberichterstatter.

Oftmals werden die öffentlich gewordenen Zwischenfälle von Polizeigewalt von offizieller Seite gerechtfertigt oder beschwichtigt und gern als Einzelfälle präsentiert.

In einem von Amnesty International kürzlich veröffentlichten Artikel wird der Mangel an der Berichterstattung über Polizeigewalt kritisiert. “Die sachliche und gesellschaftliche Kritik an der Polizei wurde als Angriff auf die Sicherheit Deutschlands umgedeutet, jede Form von Transparenz und Aufsicht wurde abgewehrt, Kritiker_innen wurden diffamiert und kriminalisiert”, heißt es in dem Text.

Tatsächlich genießt die Polizei als Institution einen guten Ruf in der deutschen Gesellschaft. Der Polizeiberuf ist weiterhin eine beliebte Wahl. Eine tiefer gehende Debatte über Polizeigewalt würde gesellschaftliche Vorstellungen in Frage stellen. Doch handelt es sich bei der Polizeigewalt um ein erhebliches gesellschaftliches Problem mit weitreichenden Konsequenzen.

Rassistische Gewalt

Vor allem Minderheiten sind von dieser Gewalt betroffen. Eine Studie, die von Kriminologen an der Universität Bochum durchgeführt wurde, bestätigte, dass ethnische Minderheiten durch die Polizei strukturell benachteiligt werden. Die Forscher interviewten mehr als 3000 Personen und stellten weiterhin anhand der Interviews fest, dass vielen der Opfer von offizieller Seite mit Zweifeln begegnet werden. Polizisten und Beamten werde mehr Glaubwürdigkeit beigemessen. Die breite Mehrheit der Fälle wird nicht rechtlich verfolgt. Es gibt einen Mangel an Untersuchungen. Mehr als 90 % der Anklagen werden fallengelassen.

Als Teil der Exekutive spielt die polizeiliche Institution eine fundamentale Rolle zur Erhaltung von Recht und Ordnung in einer Demokratie. Das Problem der Polizeigewalt sollte daher im politischen Diskurs eine signifikantere Rolle spielen. Doch findet das Problem weiterhin nur unzureichende Aufmerksamkeit, genauso wie der strukturelle Rassismus in Deutschland. Beide Probleme hängen miteinander zusammen und stellen eine Gefahr für demokratisches Leben dar.

Dies wird vor allem deutlich, wenn wieder neue Skandale um Rechtsextremismus in der Polizei, Bundeswehr oder dem Verfassungsschutz publik gemacht werden. Doch verschwinden diese oft rasch wieder aus den Schlagzeilen.

Um Polizeigewalt effektiv zu entgegnen, müsste das Problem zu einer politischen Priorität werden. Dies scheint unter der derzeitigen Kultur der Verharmlosung und Beschwichtigung eher unwahrscheinlich.

Polizeigewalt international

Deutschland ist jedoch keine Ausnahme. Vorfälle von Polizeigewalt sind weder isolierte Einzelfälle, noch geographisch eingeschränkte Phänomene. Polizeigewalt ist ein weltweites und strukturelles Problem. Zwar scheint die Brutalität in Deutschland nicht so offen ausgeprägt zu sein wie zum Beispiel in den USA oder in Israel, wo Polizeigewalt systematischer stattfindet. Die strukturelle Polizeigewalt, die von Deutschland nahestehenden Regierungen verübt wird, findet in deutschen Medien und Politik aber auch kaum Aufmerksamkeit und wird teilweise auch international von der deutschen Regierung unterstützt, etwa im Fall der Militärbesatzung Palästinas.

Als die Tötung von George Floyd in Minneapolis im Mai 2020 weltweit Proteste gegen rassistische Polizeigewalt auslöste, demonstrieren auch in deutschen Städten viele Bürger in Solidarität mit der Black Lives Matter-Bewegung. Teilweise wurden Vergleiche mit der Situation in Deutschland verbalisiert. Auch wenn das Thema der systematischen Polizeigewalt an der nicht-weißen Bevölkerung in den USA zeitweise die Nachrichten dominierte und auch in Europa Debatten auslöste, blieb es hauptsächlich bei Solidaritätsbekundungen. Proteste gegen Polizeigewalt in Europa hielten nicht an und führten zu keiner tiefgründigen Auseinandersetzung hierzulande.

Solange politisches Desinteresse zur Verharmlosung von Polizeigewalt führt, und solange es keine adäquaten Überwachungsmechanismen gibt, wird auch weiterhin eine willkürliche Brutalität ermöglicht.

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