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Der aktuelle Verfassungsschutzbericht 2019 rechnet derzeit 12.150 Personen zum sogenannten Neo-Salafismus in Deutschland. Laut Erkenntnissen der Verfassungsschützer habe sich die Zahl der Neo-Salafisten seit 2011 mehr als verdreifacht.

Besonders junge Menschen im Blick

Beobachter weisen auf die engen Parallelen zwischen dem Salafismus und dem saudi-arabisch dominierten Wahhabismus hin. Der Salafismus orientiere sich am Wahhabismus. Heute werden beide Strömungen, die als ultrakonservativ gelten, im Sprachgebrauch gleichbedeutend verwendet. Moderne Medien und Kommunikationskanäle wie das Internet spielen nach Ansichten von Experten eine wichtige Rolle in der Propagandatätigkeit der Neo-Salafisten in Deutschland.

Daher konzentriere sich die Arbeit der Bewegung nach Erkenntnissen von Sicherheitsbehörden besonders auf junge Muslime und Konvertiten in einer „schwierigen Lebensphase“. Angesprochen würden oft junge Menschen, die auf der Suche nach einer Identität seien. Die private Ansprache, meist über Online-Kommunikation, macht es den Ermittlern nicht leicht, die Szene durchgehend zu überwachen.

Bis 2016/2017, als mehrere neo-salafistische Vereine in Deutschland wie z.B. der Verein „Die Wahre Religion” verboten wurden, trat die Szene laut Ermittlungsbehörden „selbstbewusst und aggressiv in der Öffentlichkeit” auf. Auch junge Nichtmuslime sollen von den Neo-Salafisten umworben werden, mit dem Ziel, sie zur salafistischen Strömung zu bekehren. In den letzten Jahren haben Teile der Neo-Salafisten ihre Fühler auch auf deutsche Universitäten ausgestreckt. Studentinnen und Studenten berichten über zum Teil gelungene Missionierungsmaßnahmen aus ihrem Bekanntenkreis. Viele türkisch- und arabischstämmige, aber auch autochtone deutsche Familien klagen über Anwerbeversuche und -erfolge von Neo-Salafisten.

Muslime, die nicht auf einer Linie sind, gelten als „Verräter”

Der Neo-Salafismus wird in drei Gruppen unterteilt: Die spirituellen Neo-Salafisten leben ihren Glauben für sich persönlich aus. Sie lehnen Gewalt und Missionierung ab. Die politischen bzw. ideologischen Neo-Salafisten, die weltliche Gesetze wie das deutsche Grundgesetz nicht anerkennen, distanzieren sich zum größten Teil ebenso von Terror und Gewalt, wünschen sich aber einen „fundamentalistischen Gottesstaat”. Die Missionierung („Dawa”) und weitere Propagandaaktivitäten gehören zu ihrer Arbeitsweise. Die gewaltbereiten Neo-Salafisten dagegen befürworten Gewalt für die Durchsetzung ihrer Ziele.

Die Bewegung, die im gesamten Bundesgebiet, also auch in Ostdeutschland organisiert ist, steht unter intensiver Beobachtung der Sicherheitsdienste. Für zahlreiche Neo-Salafisten gelten Muslime, die nicht auf ihrer Seite stehen oder die Bewegung zumindest kritisch betrachten, als „Ungläubige“ und „Abtrünnige”. Oft wird diesen Muslimen vorgeworfen, Handlanger des „Westens” zu sein. Sie sind daher nicht selten Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt. Peter Neumann, Politologe und Extremismusforscher am Londoner King’s College, zeigt sich z.B. über kürzlich verübte Angriffe von Neo-Salafisten auf türkische Einrichtungen und Bürger in Deutschland überrascht. Er sagt, es handele sich bei den Taten um ein „wirkliches Novum in Europa”. Als Motiv vermutet der Experte einen härteren Kurs der Türkei gegen neo-salafistische Zusammenschlüsse und Terrororganisationen. In einem Gespräch mit einer oberbayerischen Lokalzeitung verweist Neumann auf den hohen Radikalisierungsgrad der Tatverdächtigen und hebt hervor, dass sich die Anschläge auf türkischstämmige Zivilpersonen in Deutschland wie eine Botschaft deuten lassen: „Der mutmaßliche Täter hat damit die Menschen als Vertreter des türkischen Staates und als mitverantwortlich für dessen Politik betrachtet.”

Neo-Salafismus sei „hausgemacht”

Es sind meist junge Menschen, unter ihnen auch viele mit durchaus guter Bildung, die in den Neo-Salafismus abdriften. Für die „Islamismus”-Expertin Claudia Dantschke aus Berlin ist der Salafismus nicht, wie viele denken, „von außen eingeschleppt“, sondern „ein Problem hier aufgewachsener Jugendlicher, die sich entfremdet, isoliert und unverstanden fühlen“ (zit. n. Jan Bielicki, Süddeutsche Zeitung). Genau deshalb gilt die neo-salafistische Szene in Deutschland als „hausgemacht” und fällt unter die Rubrik „Inlandsextremismus”.

Es sind in aller Regel in Deutschland geborene, aufgewachsene und sozialisierte Menschen, die in diese Szene rutschen. Deutschsprachige und deutschsprechende Menschen, die auch in ihrer Freizeit deutsch sprechen und nicht mehr zwingend eine Migrationsbiographie haben. Immer mehr Anhänger des Neo-Salafismus sind Deutschstämmige, also ethnische Deutsche. Darüber hinaus sprechen die meisten der Prediger auffälligerweise nahezu fehlerfrei Deutsch. Beachtlich sind zudem die professionell erstellten Videobotschaften und die technische Qualität der Internetauftritte von einigen Radikalen.

Doppelstrategie zur Prävention

Mitarbeiter von Deradikalisierungs- und Präventionsprogrammen empfehlen eine Doppelstrategie im Umgang mit Neo-Salafisten: Sie fordern zum einen ein hartes Eingreifen und die konsequente Bestrafung von Gewalttätern. Zum anderen, und das erscheint wichtiger, fordern sie eine bessere Jugendarbeit in Kommunen, Jugendzentren, Schulen, Universitäten und Moscheen, insbesondere um Jugendliche vor Gefahren zu schützen. Prävention ist damit neben der Erwachsenenbildung auch in der Jugendarbeit von zentraler Bedeutung. Einige muslimische Religionsgemeinschaften gingen bereits Kooperationen mit den Sicherheitsbehörden und Landesministerien ein. In Nordrhein-Westfalen engagieren sich zahlreiche islamische Gemeinden in dem Projekt „Wegweiser”. In Niedersachsen gibt es dafür einen eigens eingerichteten Trägerverein und eine Präventionsstelle, die sich „beRATen” nennt. In Berlin gibt es mehrere lokale Vereine und Plattformen, die Hilfestellung und Beratungsangebote in der religiösen Radikalisierungsprävention anbieten. Das Innenministerium des Landes Baden-Württemberg unterhält ein Kompetenzzentrum gegen Extremismus, das „konex” heißt. In Hessen beispielsweise kooperieren staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure miteinander.

Gemeinsame Konzepte zur Bekämpfung jeglicher Art von Extremismus

Gemeinsame, korporative und kooperative Anstrengungen gegen extremistische Ideologien sind essentiell, egal, ob es sich dabei um Rechts-, Links- oder religiösen Extremismus handelt. Denn Terroristen jeglicherCouleur richten sich meistens gegen die Mitte der Gesellschaft. Und die Mitte? Das sind wir.

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