Recep Tayyip Erdoğan spricht bei der NATO. (Others)
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Am 11. und 12. Juli hielt die NATO ihren vierten Gipfel seit Beginn des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland ab. Der letzte Gipfel hatte vom 28. bis 30 Juni in Spaniens Hauptstadt Madrid stattgefunden. Staats- und Regierungschefs der 31 NATO-Mitgliedsstaaten trafen sich nun rund ein Jahr später in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Bei den Beratungen ging es um mehrere heikle Themen. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nahm teil.

Schweden will der NATO beitreten: Ankara sichert wichtige Errungenschaften mit neuem Deal

In Schweden ist der NATO-Beitritt ein heikles Thema. Damit Schweden Mitglied der NATO werden kann, müssen alle Länder zustimmen. Doch Ankara äußert Bedenken wegen der Unterstützung Schwedens für die PKK/YPG- sowie FETÖ-Terrororganisationen und fordert ein stärkeres Engagement im Kampf gegen Terror. Nach einem Treffen zwischen Präsident Erdoğan, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und dem schwedischen Premierminister Ulf Kristersson gab es jetzt Fortschritte: Das skandinavische Land hat sich in einem offiziellen Dokument verpflichtet, genau dies zu leisten. In dem Papier wurden die Versprechen der schwedischen Seite beim Gipfel in Madrid im Juni 2022 in verstärkter Form festgehalten.

Demnach will Schweden die YPG/PYD-Terrororganisation, den syrischen Arm der PKK, sowie FETÖ nicht mehr unterstützen. In einem neuen bilateralen Sicherheitsmechanismus wird Schweden der Türkiye eine Roadmap zum Kampf gegen Terror präsentieren und sich dabei gegen „Terrorismus in allen Formen und Manifestationen stellen“. Die NATO wird zu dem Prozess beitragen, indem zum ersten Mal ein Spezialkoordinator für Terrorismusbekämpfung ernannt werden soll. Ferner wird in dem Dokument festgehalten, dass es zwischen Verbündeten keine Sanktionen oder Beschränkungen im Gebiet der Verteidigung geben soll.

Schweden will EU-Bestrebungen von Türkiye unterstützen

Außerdem wird Schweden aktiv den türkischen EU-Beitritt unterstützen und sich auch für eine moderne Zollunion sowie Visafreiheit einsetzen. Mit dem Deal und vorangegangenen Verhandlungen hat sich Türkiye einige Errungenschaften gesichert. Die USA wollen nun mit dem Verkauf von F-16-Kampfjets an das türkische Militär fortfahren. Die YPG/PYD- und FETÖ-Terrororganisationen wurden in einem offiziellen Dokument der NATO im Zusammenhang mit Terrorismusbekämpfung aufgeführt. Für die internationale Anerkennung dieser Terrorgruppen als solche ist dies nahezu revolutionär. Ferner ist auch die aktive Unterstützung Schwedens für den türkischen EU-Beitritt ein wichtiger Aspekt. In Vilnius hat sich Türkiye zudem eine aktive Zusammenarbeit mit Schweden und der NATO bei der Terrorismusbekämpfung gesichert. Daneben erwägt Schweden auch, Verbrennungen des Koran per Gesetz zu verbieten.

Schwedische NATO-Mitgliedschaft zur Ratifizierung im türkischen Parlament

Türkiye hat sich im Treffen zwischen Erdoğan, Stoltenberg und Kristersson dazu bereiterklärt, den Ratifizierungsprozess im türkischen Parlament so schnell wie möglich einzuleiten. Dies ist allerdings ein entscheidender Knackpunkt. Vor seiner Abreise nach Vilnius hatte Präsident Erdoğan ausdrücklich betont, die Entscheidung zu Schweden liege beim Parlament. „Über etwas, was unser Parlament nicht akzeptiert, können wir nicht sagen, dass wir es machen werden“, so Erdoğan. Schweden ist zwar einen Schritt näher am Bündnis, doch noch ist nichts gerichtet. Sollte das Parlament Schwedens Mitgliedschaft nicht ratifizieren, muss sich Schweden weiterhin bemühen, die türkische Politik zu überzeugen. Da Sympathisanten der PKK/YPG-Terrorgruppe immer noch auf schwedischen Straßen präsent sind, was von allen türkischen Parteien verurteilt wird, ist die Verabschiedung durch das Parlament alles andere als sicher. Hinzu kommt, dass das türkische Parlament bald in die Sommerpause geht und erst wieder am 1. Oktober seine Arbeit aufnimmt. Noch ist also Zeit für Türkiye, um zu beobachten, ob Schweden den Verpflichtungen auch tatsächlich nachkommt. Der schwedische Ex-Außenminister Jan Eliasson warnte vor einer „ernsten Verspätung“. Auch Experten betonten, dass es noch zu früh sei, von einem endgültigen Beitritt zur NATO zu sprechen.

NATO-Perspektive für die Ukraine: Das Bündnis steht vor einem Dilemma

Das ohne Zweifel wichtigste Thema auf der Agenda des NATO-Gipfels in Vilnius war allerdings die Debatte um den NATO-Beitritt der Ukraine. Sie wird das Bündnis noch lange Zeit beschäftigen. Bislang konnten sich die Mitglieder des Verteidigungsbündnisses nicht auf ein gemeinsames Konzept für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine einigen, wie Stoltenberg zuletzt bestätigte. Beim Gipfel kam keine von der Ukraine ersehnte Einladung an die Ukraine. Im Abschlussdokument hieß es lediglich, der rechtmäßige Platz der Ukraine sei die NATO, doch sie werde nur dann beitreten, „wenn die Verbündeten einverstanden und die Voraussetzungen erfüllt sind“. Seit mindestens 2008 bemüht sich die Ukraine um die Aufnahme in der NATO, doch der Konflikt im Land erschwert diese Bestrebungen. Denn hier steht das Bündnis vor einer schwierigen Entscheidung. Sollte die Ukraine in die NATO aufgenommen werden, würde ukrainisches Territorium automatisch Teil des NATO-Territoriums werden. Dies wiederum würde bedeuten, dass ausgehend von Artikel 5 des NATO-Vertrages ein Angriff auf die Ukraine als Angriff gegen alle Mitgliedsländer zu werten ist. In diesem Fall müsste die NATO die Ukraine direkt verteidigen und somit in den Krieg gegen Russland ziehen. Andererseits scheint eine NATO-Mitgliedschaft aber der einzige tatsächlich wirksame Weg zu sein, um Russland vor weiteren militärischen Handlungen abzuschrecken.

In der NATO haben sich ausgehend von diesen Positionen inzwischen zwei ganz deutliche Fronten herauskristallisiert. Die osteuropäischen und baltischen Länder wie Polen, Litauen, Rumänien und Lettland plädieren für ein deutlich härteres Durchgreifen in der Sache und fordern eine Aufnahme der Ukraine in die NATO trotz des Krieges im Land. Geht es nach diesen Ländern, soll die Aufnahme schnell und ohne die üblichen Formalitäten wie dem sogenannten „Membership Action Plan“ erfolgen. Hier setzten sie sich wohl durch: Stoltenberg kündigte an, anders als andere Mitgliedskandidaten brauche die Ukraine diesen Plan nicht. Darauf habe man sich geeinigt. Länder wie die USA und Deutschland hingegen verhalten sich bislang eher zurückhaltend. Sie fordern im Gegensatz zum ersten Lager einen strikteren Prozess. Statt einer Aufnahme sprechen sie sich für Sicherheitsgarantien aus. Unklar ist aber, wie diese Garantien konkret aussehen sollen. Den USA und Deutschland zufolge muss die Ukraine wie alle anderen zukünftigen Mitgliedskandidaten die nötigen Voraussetzungen erfüllen. Außerdem halten die USA und Deutschland eine Aufnahme der Ukraine nur nach dem Ende des Konfliktes mit Russland für möglich. Bis zum Beitritt der Ukraine ist es dennoch weiterhin ein langer Weg.

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